Jacinda Ardern sieht müde aus. Im grünen Sweatshirt, ungeschminkt und ziemlich kaputt, meldet sie sich über Facebook. Sie habe eben ihre Tochter Neve ins Bett gebracht, erzählt sie Millionen von Zuschauern, «und das ist halt nicht kompatibel mit einem formellen Geschäftsanzug».
Zwei Sätze später verdonnert sie die Nation zu einigen der weltweit härtesten Anti-Corona-Massnahmen. Mit Erfolg. Vergangene Woche hatte die Nation die Pandemie im Griff.
Vereinigen statt trennen
Eine Frau, die zwischen Baby stillen und Windeln wechseln mit Washington über bilaterale Wirtschaftsbeziehungen verhandelt. Doch Jacinda Arderns Kommunikationsstil ist konträr zu dem von Donald Trump: Hoffnung statt Angst, vereinigen statt trennen, Mitgefühl statt Ablehnung.
Nach dem Attentat in Christchurch im März 2019, bei dem 51 betende Muslime einem rechtsextremen Terroristen zum Opfer fielen, sprach sie in der Trauerrede nur von Versöhnung.
Ardern hatte zwar Politik studiert, stammt aber nicht aus einer Politikerdynastie. Ihr Vater ist Polizist, ihre Mutter Assistentin bei einem Verpflegungsdienstleister. Ihr erster Job war in einem Fish-and-Chips-Laden. 2017 kam sie fast per Zufall an die Macht, nachdem die Labourpartei kurz vor dem Urnengang ihren damaligen Chef in die Wüste geschickt hatte, und dann die Wahlen gewann. Als neue Parteichefin wurde sie Premierministerin, mit 37.
Analyst: Fade Politikerin - tolle Kommunikatorin
Es ist schwierig, ausserhalb Arderns politischer Opposition, der konservativen Nationalpartei, ernsthafte Kritiker zu finden. Einer ist Bryce Edwards. Der Politikanalyst und prominente Medienkommentator sieht im Gespräch mit SRF eine «essenziell zentristische, fade Politikerin, die sorgfältig gefertigte Botschaften weitergibt, die aber eigentlich leer sind». Doch selbst er spricht von einer «tollen Premierministerin» mit einem «unglaublichen Kommunikationstalent».
Arderns Gegner wissen, sie nicht zu unterschätzen. Die Unnachgiebigkeit, mit der sie die Anti-Corona-Massnahmen umsetzte, ist nur das jüngste Beispiel für ein bemerkenswertes Durchsetzungsvermögen.
Schon Tage nach den Wahlen hatte Ardern Pflöcke eingeschlagen: «Die neuseeländische Wirtschaft muss wieder Neuseeländern dienen», so ihre Antwort auf Jahre unter einer von neoliberaler Ideologie getriebenen konservativen Regierung.
Sie kippte deren Pläne für eine Steuerreduktion. Priorität seien Gesundheitsversorgung und Ausbildung. Kaufstopps für Ausländer im überhitzten Immobilienmarkt sollten den drastischen Mangel an Wohnraum lindern.
Nicht alle Versprechen eingelöst
Kritiker wie Bryce Edwards weisen jedoch darauf hin, dass Ardern einige Ziele nicht erreicht hat, mit der Labour 2017 in den Wahlkampf getreten war. Pläne, die Verfügbarkeit von erschwinglichem Wohnraum im Verlauf mit dem Bau von 100‘000 Häusern durch den Staat zu verbessern, seien nicht ansatzweise verwirklicht worden. Auch der Graben zwischen Arm und Reich sei weiter gewachsen.
Wir sind alle ersetzbar.
Der Analyst rechnet für Samstag mit einem «überwältigenden Sieg für Labour». Und wenn nicht? Ardern sieht ihre Zukunft pragmatisch. «Wir sind alle ersetzbar», so die Politikerin. Im Fall einer Wahlschlappe hätte sie mehr Zeit für ihre kleine Tochter und ihren Partner Clarke Gayford. Im Moment wechselt meistens er die Windeln.