Ein Moderator kündigt die Präsidentschaftskandidatin Svetlana Tichanowskaja an. «Sveta, Sveta!» ruft die Menge in einem Youtube-Video, das weissrussische Oppositionelle veröffentlicht haben. Sveta ist der Kosename für Svetlana.
Der Platz in der Provinzstadt Mogiljow ist voller Menschen – wie überall, wo die 37-jährige Tichanowskaja derzeit auftritt. Sie, eine zurückhaltende, fast schüchterne Frau, die plötzlich im Rampenlicht steht. «Danke, dass Ihr heute gekommen seid», sagt Tichanowskaja zur Menge. «Wir wollen Veränderungen – und ich bin froh, dass Ihr das auch wollt.»
Mit «wir» sind noch zwei andere Frauen gemeint, die neben Tichanowskaja auf der kleinen Bühne stehen: Veronika Zepkalo und Maria Kolesnikowa. Die drei sind zu einem Symbol geworden für den Kampf gegen Staatschef Alexander Lukaschenko.
Sie treten zusammen in Interviews auf und haben ein gemeinsames Ziel: am 9. August den Langzeitherrscher Lukaschenko zu besiegen. Und sie haben in gewisser Weise ein ähnliches Schicksal: Sie tun, was sie tun, weil die Männer es nicht können.
Ein politisches Programm im eigentlichen Sinn hat Tichanowskaja nicht. Nur sechs Monate will sie im Amt bleiben – und dann einem demokratisch gewählten Nachfolger, einer demokratisch gewählten Nachfolgerin Platz machen.
Es hat etwas Heldinnenhaftes, was die 37-jährige Frau für diese Mission auf sich nimmt. «Mein Mann sitzt im Gefängnis und ich habe Drohungen bekommen, auch gegen meine Kinder, weswegen ich sie ins Ausland habe bringen lassen. Mein 10-jähriger Sohn hat mir eine SMS geschickt: ‹Mama›, schreibt er, ‹ich habe Angst um dich.›»
Gemäss unserer Verfassung hat der Präsident sehr viel Macht. Deswegen muss ein richtiger Mann das Amt innehaben – nicht eine Frau, die bloss nett lächelt.
Tichanowskaja ist keine Politikerin. Sie würde lieber zu Hause am Herd stehen und für die Familie kochen, erklärte sie mal. Für Lukaschenko ist sie dennoch eine Gefahr. Der autoritär herrschende Präsident hat ohnehin ein Popularitätsproblem: Viele Menschen leiden unter der schlechten Wirtschaftslage – und der paternalistische Stil Lukaschenkos, der an einen sowjetischen Fabrikdirektor erinnert, wirkt wie aus der Zeit gefallen.
Gegen Tichanowskaja ist ihm bisher kein Argument eingefallen – ausser dieses: «Die Weissrussen werden keine Frau wählen. Gemäss unserer Verfassung hat der Präsident sehr viel Macht. Deswegen muss ein richtiger Mann das Amt innehaben – nicht eine Frau, die bloss nett lächelt.»
Hemmungsloser Machismus also vom Staatschef. Wobei man auch sagen muss: ein feministisches Projekt ist Tichanowskajas Kandidatur nicht. Sie ist vielmehr Ersatz für ihren Mann – und will, wenn der aus dem Gefängnis kommt, in den Hintergrund treten.
Prognosen kaum möglich
Wie die Wahl ausgeht, ist schwer vorherzusagen. Vertrauenswürdige Meinungsumfragen gibt es nicht. Lukaschenko kontrolliert die Wahlkommissionen, deswegen ist mit weitreichenden Fälschungen zu rechnen. Tichanowskaja und ihre Mitstreiterinnen setzen auf einen Drei-Punkte-Plan: Hohe Wahlbeteiligung, möglichst viele Wahlbeobachter und wenn nötig Strassenproteste.
Es könnte ein langer Kampf werden. An Tichanowskajas Veranstaltungen singen sie in diesen Tagen häufig ein Protestlied: «Sprengt die Fesseln, zerbrecht die Peitsche und die Mauern werden fallen», heisst es darin.
Das Lied stammt ursprünglich aus Polen. Dort mussten die Aktivsten der Solidarność-Bewegung diese Melodie viele Jahre lang immer und immer wieder anstimmen, bis das kommunistische Regime endlich fiel.