Es ist in diesen Tagen nicht besonders schwer, einen hochrangigen Experten und Vertreter einer Hilfsorganisation vors Mikrophon zu kriegen. Denn sie alle haben die gleiche alarmierende Botschaft: Die Schwarzmeerhäfen müssen geöffnet werden. «Ohne Öffnung wird es nicht funktionieren», sagt Matthew Hollingworth, Emergency Coordinator des UNO-Welternährungsprogramms in Kiew.
Verheerende Folgen für die Welt
Vor dem Krieg exportierte die Ukraine fünf Millionen Tonnen Getreide pro Monat, jetzt über den komplizierten Landweg ist es nur noch ein Bruchteil: Im März 350'000 Tonnen, im April 400'000, im Mai 900'000 Tonnen, im Juni könnten es 1.5 Millionen Tonnen sein. Man muss nicht gross rechnen können – die Schwarzmeerhäfen müssen geöffnet werden.
Die Folgen für die Welt seien verheerend, sagt Hollingworth. Er weiss, wovon er spricht. Vor seinem Einsatz in der Ukraine war er im Südsudan tätig, einer der ärmsten Regionen der Welt.
2021 habe die Ukraine 51 Millionen Tonnen Getreide exportiert. «400 Millionen Menschen weltweit haben sich damit ernährt», so Hollingworth. Ohne das Getreide aus der Ukraine drohe zusätzlich 47 Millionen Menschen der Hunger. Die Ukraine sei ein wichtiger Getreideexporteur für Nord- und Ostafrika, den Nahen Osten, Asien und Teile Amerikas.
Aber sogar im Südsudan, wo die Menschen gar kein Getreide aus der Ukraine nutzten, weil sie Hirse ässen, habe der Ukrainekrieg verheerende Folgen: Wenn in der Region die Brotpreise steigen, dann wird auch Hirse teurer – weil dann die Nachbarländer von Weizen auf andere Getreidesorten wie eben Hirse umstellen.
Langwierige Auswirkungen
Das sind die globalen Folgen des Krieges. Aber auch die Ukraine selbst ist von der russischen Blockade massivst betroffen. Vor dem Krieg machten die Getreideexporte zehn Prozent des ukrainischen Bruttoinlandproduktes aus. Durch den Krieg ist dieses um mehr als die Hälfte auf 45 Prozent geschrumpft.
Ein Augenschein 200 Kilometer südlich von Kiew verdeutlicht die Lage für die ukrainischen Landwirte. Dort befindet sich die Farm des Holländers Kees Huizinga. Sage und schreibe 15'000 Hektar Felder bewirtschaftet der Holländer. Im Grunde seien nicht nur eine, sondern drei Ernten durch diesen Krieg bedroht, warnt er.
Die Ernte aus dem letzten Jahr sei betroffen, weil sie zu rund einem Drittel noch in den Silos lagere und nicht exportiert werden könne. «Die diesjährige Ernte ist betroffen, weil bis zu 30 Prozent ausgesät werden kann, zudem ist zu wenig Dünger da.»
Und die Ernte von 2023 sei betroffen, weil viele Bauern im nächsten Jahr kein Geld haben werden, um auszusäen, wenn sie die Ernte von 2022 nicht verkaufen könnten.
Die Welt hortet Getreide
Realität ist aber auch, dass es weltweit eigentlich genug Getreide gibt – trotz des Kriegs in der Ukraine. «Allerdings haben viele Länder ihre strategischen Reserven geschlossen und erlauben keinen Export mehr», sagt Jakob Kern vom UNO-Welternährungsprogramm in Rom. Er hat in den letzten Monaten die Ukraine-Hilfe des WFP aufgebaut.
Es sei dasselbe Verhalten wie jenes der Konsumenten bei uns zu Beginn der Pandemie: «Alle Leute hamsterten WC-Papier – einfach, weil sie glaubten, es gäbe bald einmal keines mehr zu kaufen», so Kern.
Der Alarm der Experten ist also berechtigt – doch trotz der Dringlichkeit ist kurzfristig keine Aufhebung der Blockade der ukrainischen Häfen in Sicht.