Chinas Präsident Xi Jinping spricht im kommunistischen Parteiblatt «Renmin Ribao» von einem «Wunder»: 100 Millionen Menschen oder 128'000 Dörfer seien seit seinem Amtsantritt vor acht Jahren von der Armut befreit worden. Der Politologe Dirk Schmidt analysiert die Erfolgsmeldung zwischen Realität und Propaganda.
SRF News: Hat China innert acht Jahren 100 Millionen Menschen aus der Armut befreit?
Dirk Schmidt: Die Statistiken sind glaubwürdig und fügen sich in entsprechende Berichte von Ende 2020 ein. Damals gab China bekannt, die letzten Kreise seien aus der extremen Armut herausgehoben worden. Es ist im Grunde die Fortsetzung dieser seit 40 Jahren laufenden Geschichte, dass ungefähr 770 Millionen Menschen von der Armut befreit wurden.
Die Statistiken sind glaubwürdig.
Aktuell hängt das stark mit der Erfolgsgeschichte von Präsident Xi Jinping zusammen, der damit sein Versprechen eingelöst hat. Es ist auch ein Erfolg für den Ende 2020 abgelaufenen Fünfjahresplan. Angesichts der Pandemie kann der Präsident zudem geltend machen, dass das Ziel unter sehr schwierigen Umständen erreicht worden und China ein Vorbild für die Welt sei.
Hat somit China die Gesamt-Armutsziele der UNO-Agenda 2030 zehn Jahre früher erreicht als geplant? Wie ist das gelungen?
Hier geht es um die Gründe des chinesischen Wirtschaftsaufstiegs seit ungefähr 1979. Der erste grosse Schub der Armutsüberwindung hing mit der Entfesselung der Marktkräfte zusammen – mit der Entkollektivierung der Landwirtschaft und der Zulassung von Privatunternehmen. Ab 2000 bis 2010 kamen ganz gezielt auch ländliche Entwicklungsprogramme dazu – die Chinesen sprechen von finanziellen Mitteln von 250 Milliarden Dollar. Dazu gehörten unter anderem Belohnungsanreize für Kader: Sie wurden nur befördert, wenn in ihren Kreisen die Armutsziele erreicht wurden.
Lässt sich das chinesische Wirtschaftsmodell übertragen, beispielsweise auf afrikanische Staaten?
Da bin ich sehr skeptisch. Das Ganze beruht auf sehr spezifischen chinesischen Voraussetzungen. Dazu gehört das Anlocken von auswärtigen Investitionen über 40 Jahre hinweg. Zudem das Entwicklungsniveau, das China trotz aller Probleme bereits in den 1970er-Jahren hatte – mit einer gut ausgebauten städtischen Industriearbeiterschaft. Positiv wirkte sich auch die Organisationskraft und -stärke der Kommunistischen Partei aus. All das fehlt in weiten Regionen anderer Entwicklungs- und Schwellenländer.
Was ist der Preis dieser Armutsbekämpfung für die Menschen?
Der Preis ist hoch. Diese Statistiken können nicht darüber hinwegtäuschen, dass es weiterhin sehr grosse Unterschiede bei Kaufkraft und Lebensstandard, zwischen Stadt und Land und einzelnen Berufsgruppen gibt. Ein Beispiel ist die Gig-Economy, wo Hunderttausende meist freiberuflich mit Motorrädern Essen ausfahren – schlecht bezahlt ohne Absicherung. Für 300 Millionen Wanderarbeiter gelten ähnliche Bedingungen: Es gibt keine Arbeitnehmerrechte nach westlichem Verständnis, dazu kommen Umweltverschmutzung und steigende Lebenshaltungskosten.
Menschen klagen über den knallharten kapitalistischen Überlebenskampf in den Städten.
Chinesinnen und Chinesen beklagen selbst auch immer wieder, dass Solidarität und Mitmenschlichkeit verloren gegangen seien. Dass also ein knallharter kapitalistischer Überlebenskampf in den Städten herrscht. Das sind die Schattenseiten dieser Erfolgsgeschichte.
Das Gespräch führte Ivana Pribakovic.