Eine palästinensische Familie hat diese Woche mit der Klage beim ICC gegen die eigene Regierung Undenkbares getan. Die Sicherheitskräfte von Präsident Mahmoud Abbas hatten im Juni 2021 den bekannten palästinensischen Regierungskritiker und Menschenrechtsaktivisten Nizar Banat verhaftet und mutmasslich zu Tode geprügelt.
Eine Überwachungskamera fing den Moment ein, als palästinensische Sicherheitskräfte am 24. Juni 2021 den leblosen Körper Nizar Banats durch einen Gang schleiften. Kurz davor hatten sie sein Haus in Hebron im Westjordanland gestürmt. Eine Autopsie zeigte, dass Banat brutal zusammengeschlagen worden war. Von den eigenen Leuten, sozusagen. Sein Tod schockierte die palästinensische Öffentlichkeit.
Es kam wochenlang zu Demonstrationen, viele forderten den Rücktritt des greisen und längst nicht mehr demokratisch legitimierten Palästinenserpräsidenten Mahmoud Abbas. Seine Regierung sprach dann von einem Fehler und liess einige Sicherheitsbeamte pro forma vor Gericht stellen und verurteilen.
Klage am ICC in Den Haag
Für Nizar Banats Familie ist damit keine Gerechtigkeit erreicht. Sie hat selbst Indizien gesammelt und diese dem Internationalen Strafgerichtshof ICC in Den Haag übergeben. Dieser untersucht seit März letzten Jahres Kriegsverbrechen in den besetzten palästinensischen Gebieten.
Banats Familie ist nicht die einzige palästinensische Familie, die im ICC die letzte Hoffnung für Aufklärung und Gerechtigkeit sieht. Doch normalerweise richten sich Klagen palästinensischer Familien gegen mutmassliche israelische Täter und Täterinnen.
Im Frühling dieses Jahres wurde die palästinensische Al-Jazeera-Reporterin Shireen Abu Akleh erschossen: Ihre Eltern sind aufgrund von Indizien überzeugt, dass ein israelischer Soldat sie kaltblütig ins Visier genommen hatte. Auch sie sind an den ICC gelangt. Und in diesem Fall hat sich die palästinensische Autonomiebehörde hinter die Familie gestellt.
Im Fall von Nizar Banat, den sie mutmasslich selbst auf dem Gewissen hat, wird sie es nicht tun. Und schon gar nicht jetzt: Nach den Terroranschlägen in Israel in diesem Jahr, bei denen mehr als zwei Dutzend Israelis von militanten Palästinensern getötet wurden, hat Israel an die 200 Palästinenserinnen und Palästinenser getötet.
Gegen Brutalität und Straflosigkeit
Für die palästinensische Regierung ist Krieg, und im Krieg steht man zusammen. Dass es Banats Familie trotzdem wagt, die palästinensische Autonomiebehörde zur Rechenschaft zu ziehen, ist mutig – und ein Zeichen des enormen Leidensdrucks in den Palästinensergebieten.
Mit Nizar Banat und Shireen Abu Akleh sind zwei wichtige palästinensische Stimmen zum Schweigen gebracht worden. Dass die Täter in mindestens einem der beiden Fälle Palästinenser waren, schmerzt das palästinensische Volk besonders. Normalerweise werden Verbrechen der palästinensischen Regierung noch immer tabuisiert – dem gemeinsamen Kampf gegen die israelische Besatzung zuliebe. Banats Familie bricht dieses Tabu und setzt damit ein Zeichen gegen die Brutalität und die Straflosigkeit – ungeachtet, von welcher Seite die Täter kommen.