Strich um Strich erweckt sie das Gesicht einer älteren Frau zum Leben. Den Kohlestift führt Hilary Vernon-Smith. Die 70-Jährige arbeitet konzentriert in ihrem Malatelier, dessen Wände dicht behängt sind mit Porträt- und Aktzeichnungen. Auch nackte Männer sind zu sehen.
«Sehen Sie: Es gibt viele Männer hier», lacht die Künstlerin verschmitzt. «Es sind Freunde, Brüder oder Enkel. Sie dürfen uns besuchen; hier wohnen aber nicht», stellt sie gleich klar.
Hilary Vernon-Smith ist eine von 26 Frauen, die seit sieben Jahren in einer Hausgemeinschaft leben, welche Frauen über 50 vorbehalten ist. «Wir haben nichts gegen Männer», betont sie. «Doch Männer unserer Generation sind gegenüber uns Frauen finanziell meist bessergestellt. Sie können sich mit eigenen Mitteln eine gute Wohnsituation fürs Alter leisten.»
Mehr als eine Alterssiedlung
Neben dem Atelier umfasst Vernon-Smiths Neubauwohnung einen offenen Wohn- und Küchenbereich und ein Schlafzimmer. Ihr Wohnraum ist gegen Süden ausgerichtet – auf den grossen Gemeinschaftsgarten und das dreigeschossige Gebäude, in dem gut die Hälfte der Bewohnerinnen in Ein- bis Dreizimmerwohnungen lebt.
«Wir kennen uns nicht erst, seit wir hier eingezogen sind», erklärt Hilary Vernon-Smith. «Die Idee der Hausgemeinschaft für Frauen über 50 hat uns zusammengebracht.» Sie haben das Projekt gemeinsam entwickelt, haben Geldgeber gesucht, Bewilligungen eingeholt und den Bau gemeinsam überwacht. «Das hat uns zusammengeschweisst.»
Vernon-Smith hat vor bald 20 Jahren erstmals von der Idee gehört. Da arbeitete sie noch als Kulissengestalterin am Nationaltheater und begann sich mit gut 50 Jahren Gedanken zu machen, wo, wie und mit wem sie den dritten Lebensabschnitt verbringen möchte. «Mir war klar, dass ich in einer Gemeinschaft leben und trotzdem meinen eigenen Lebensraum haben möchte.»
Entscheide fallen einstimmig
Ihren Traum haben die 26 Frauen wahrgemacht. Ihre Siedlung umfasst neben den 25 Wohnungen mit Terrasse oder Balkonen auch einen grossen Gemeinschaftsraum mit Küche – mit direktem Zugang zum Gemeinschaftsgarten. «Da ist immer etwas los», erzählt die 94-jährige Hedi Argent. Sie ist die Doyenne der Gemeinschaft.
Neben den spontanen Tee- und Scones-Runden treffen sich hier alle Bewohnerinnen einmal im Monat zur Hausversammlung. Da werden alle anstehenden Probleme besprochen und Lösungen gesucht: Von der Waschmaschine, die revidiert werden muss, bis zur Dachrinne, die verstopft ist – zum Beispiel. «Alle Entscheide fällen wir einstimmig», sagt Hedi Argent. «Das gibt viel zu reden. Denn wir teilen zwar dieselben Werte, sind aber oft unterschiedlicher Meinung. Wir sind keine Klone. Und das ist gut so.»
Hedi Argent hat die ganze Planungs- und Bauphase miterlebt und mitgeprägt. «Die Baubewilligung zu bekommen, war schwierig.» Die Baubehörde habe lange gezögert, die Siedlung für Frauen über 50 zu bewilligen. «Sie befürchteten, dass die Sozialkosten steigen könnten, wenn plötzlich 26 ältere Frauen in der Gemeinde leben würden. Das Gegenteil ist eingetreten: Wir schauen uns gegenseitig und laufen nicht Gefahr, zu vereinsamen. Das hält gesund – und spart Kosten.»