Am Ende war es deutlich. Ursula von der Leyen holte bei der Wahl im EU-Parlament 401 Stimmen und bleibt für weitere fünf Jahre Präsidentin der EU-Kommission. Nötig gewesen wären 360 Stimmen.
Dass die Wiederwahl so klar ausgehen würde, zeichnete sich noch vor wenigen Wochen nicht ab. Aus allen politischen Gruppen im Parlament waren laute Klagen über Ursula von der Leyen zu vernehmen. Sie orientiere sich nur an den Mitgliedstaaten und lasse das EU-Parlament in der Entscheidfindung regelmässig links liegen, lautete ein Vorwurf.
Besonders heftiger Gegenwind kam gar aus ihrer eigenen Parteienfamilie, der Europäischen Volkspartei. Diese nahm unter dem Eindruck der europaweiten Bauernproteste den «Green Deal» unter Beschuss. Von der Leyens Prestigeprojekt, mit dem die EU bis 2050 klimaneutral werden soll. Die Kommission nahm unter diesem Druck und unter von der Leyens Führung diverse Abstriche an diesem Gesetzesprojekt vor. Was wiederum harsche Reaktionen aus dem linken und grünen Lager zur Folge hatte. Ursula von der Leyen schien es in den vergangenen Monaten im Parlament niemandem recht machen zu können.
Keine Lust auf Experimente
Und doch hat eben dieses EU-Parlament sie nun mit deutlicher Mehrheit erneut zur Kommissionspräsidentin gewählt. Das hat aber nicht in erster Linie mit Ursula von der Leyen selbst zu tun.
Die Gründe für ihre Wiederwahl sind anderswo zu suchen: Der Krieg in der Ukraine könnte die EU noch auf Jahre hinaus beschäftigen. Die Wettbewerbsfähigkeit ist angesichts der Konkurrenz aus China und den USA infrage gestellt. Und dann zeichnet sich – spätestens seit dem Attentat vom Wochenende – immer deutlicher ab, dass Donald Trumps Rückkehr ins Weisse Haus in Washington ein äusserst plausibles Szenario ist. Kurz gesagt: Das politische Umfeld, in dem sich die EU in naher Zukunft bewegen wird, dürfte noch ungemütlicher werden als bisher.
Hinzu kommt die politische Situation in den beiden wichtigsten EU-Ländern: Die deutsche Regierung befindet sich im Dauerstreit und in Frankreich ist gar unklar, wie die kommende Regierung aussehen wird. Das französisch-deutsche Duo kann so nur eingeschränkt als Taktgeber in der EU agieren.
Führungslose EU soll verhindert werden
In dieser Situation auch noch der EU-Kommissionspräsidentin die Wiederwahl zu verweigern, ohne dass klar ist, wer denn die Alternative wäre, das war der Mehrheit der Parlamentarierinnen und Parlamentarier ein zu grosses Experiment. Monatelang wäre die EU mit sich selbst beschäftigt gewesen – mit völlig offenem Ausgang.
Die Mehrheit im EU-Parlament wollte mit der raschen Einigung auf eine Kommissionspräsidentin den Eindruck einer führungslosen EU verhindern. Und so ist die Wiederwahl Ursula von der Leyens weniger ein Ergebnis ihrer Arbeit in den vergangenen fünf Jahren, sondern vielmehr das Resultat der weltpolitischen Umstände.