Es war vor 175 Jahren, als in Bern Kantonsvertreter die Zukunft der Schweiz prägten: Sie schufen die erste Bundesverfassung und damit die erste stabile Demokratie Europas. Andreas Kley ist Spezialist für die Schweizerische Verfassung und beschreibt, wie es dazu kam.
SRF News: In welchem Umfeld ist die Verfassung 1848 entstanden?
Andreas Kley: Das Umfeld war eher unfreundlich. In ganz Europa herrschte Aufruhr. Es gab Revolutionen, die allerdings scheiterten. In der Schweiz hatte man einen Bürgerkrieg hinter sich, den Sonderbundskrieg 1847. Nun ging es um die Schaffung dauerhafter Institutionen.
Die Verfassung war also darauf ausgelegt, die Macht so auszutarieren, dass alle einbezogen wurden?
Es ging darum, alle einzubeziehen, insbesondere das Volk. Auch das Volk sollte repräsentiert werden, nicht nur die Kantone. Der zweite Punkt betraf die Katholiken. Diese hat man auf Distanz gehalten, weil sie den liberalen Idealen nicht zustimmten.
Dennoch wollte man die Katholiken einbinden?
Ja, das kam im Laufe der Zeit. Die Katholiken sahen sich erst als Ausgeschlossene, aber sie machten mit. Sie haben die Ständeräte und Nationalräte bestellt und kamen an die Sitzungen.
Es ging darum, einen Staat zu errichten, in dem alle Willigen mittun können, obwohl sie verschiedene Meinungen haben.
Diese Verfassung prägt unser politisches System. Steckt in unseren Institutionen noch die Erfahrung des Bürgerkriegs?
Die Erfahrung vielleicht ist zu stark ausgedrückt. Aber es ist das Bewusstsein da, dass die Schweiz ein vielgestaltiges Land ist. Es gibt Konfessionen und Sprachgemeinschaften, die gefährdet sind, wenn Konflikte auftauchen. Es ging darum, einen Staat zu errichten, in dem alle Willigen mittun können, obwohl sie verschiedene Meinungen haben. Das war die Idee.
Heute ist die Schweiz digitalisiert und verflochten mit anderen Ländern. Sind unsere Institutionen noch zeitgemäss, wenn eine Entscheidungsfindung immer viel Zeit braucht?
An und für sich ist die Demokratie die Staatsform, die langsam arbeitet und versucht, gut zu überlegen und alle auf diese Art und Weise mitnimmt. Es ist immer ein Vorteil, wenn man sich nicht durch das Ausland oder durch angebliche Zwänge drängen lässt. Wir haben auch die direkte Demokratie, die braucht noch mehr Zeit.
Die Politik müsste den Willen haben, die grundlegenden Normen, wie man Entscheide fällt, einzuhalten.
Sie spielen auf das Notrecht an, das der Bundesrat in letzter Zeit einige Male beanspruchte. Heisst das, dass die Verfassung an ihre Grenzen kommt, wenn die Schweiz schnell agieren muss?
Die Frage ist doch: Ist es die Verfassung oder die Politik, die an die Grenze kommt? Von mir aus gesehen ist es die Politik. Sie müsste den Willen haben, diese grundlegenden Normen, wie man Entscheide fällt, einzuhalten. Wenn es nicht funktioniert, muss man das Verfahren ändern. Das kann man machen, aber in der Art, wie das bisherige Verfahren es vorschreibt. Man darf nicht über Nacht alles überstürzen. Die Entscheide, die so herauskommen, sind sowieso falsch. Denken ist auch in der Politik dringend notwendig.
Es gibt Bestrebungen, die Verfassung grundlegend anzupassen. Bald wird eine Initiative lanciert, die eine Totalrevision der Bundesverfassung fordert. Was halten Sie von dieser Idee?
Wir haben die Verfassung 1999 total revidiert. Dieser Prozess hat von 1964 bis 1999 gedauert. Einen langwierigen Prozess dürfte es auch wieder geben, wenn die Initiative angenommen wird. Aber das Nachdenken über unsere Verfassung finde ich legitim. Das hat einen eigenen Wert in der Demokratie.
Das Gespräch führte Simone Hulliger.