Zusammen mit ihrem Sohn kommt Hanna Sahlfeld-Singer zum Bundeshaus zurück, 50 Jahre nach Annahme des Frauenstimmrechts. Die 77-Jährige geht am Stock.
Damals, an ihrem ersten Tag im Parlament, war die frisch gewählte SP-Nationalrätin erst 28 Jahre jung. «Ich bin ganz naiv mit meinem Mann auf diesen Eingang zugelaufen. Da sagte mir der Pförtner, heute seien keine Führungen, heute könne ich nicht hinein. Ich musste ihm dann sagen, dass ich die Neue sei, die zur Vereidigung kommt.»
Erst ein paar Monate vor Sahlfeld-Singers Amtsantritt erhalten die Schweizerinnen das Wahl- und Stimmrecht auf Bundesebene, nach einem langen Kampf. Noch 1969 marschieren die Frauen auf den Bundesplatz, pfeifen den Bundesrat aus. Schliesslich nehmen die Männer im Februar 1971 das Frauenstimmrecht an.
Sahlfeld-Singer war kämpferisch unterwegs. Besonders jene interessierten sie, die keine Stimme in der Politik hatten. «Ich schaute gut hin, wo ich als Theologin einfach nicht schweigen konnte. Mich interessierten die Schwächsten in der Gesellschaft.»
Die einen haben mich geliebt – und dann gabs die andern.
Nicht alle mögen die umtriebige Frau mit den modernen Vorstellungen. «Die einen haben mich geliebt – und dann gabs die andern, die wichtigen Leute, die Herren, die konnten nichts mit mir und meinem Mann anfangen. Vor allem aber mit mir nicht.»
In vielen Themenbereichen ihrer Zeit voraus
Kurz nach den Wahlen schreibt Sahlfeld-Singer mit spitzer Feder für die Zeitung «Die Tat»: «Nun haben wir Frauen also gewählt. Einige ‹verpolitisierte› Frauen sind sogar gewählt worden. Entgegen den Befürchtungen mancher Männer sind sie immer noch – Frauen.»
Mit Sahlfeld-Singer sind elf Frauen in den Nationalrat gewählt worden. Und sie gibt Gas, ist in vielen Themenbereichen ihrer Zeit voraus. Etwa bei der Revision des Eherechts. Die Themen fliegen ihr zu – auch aus eigener Betroffenheit. Etwa als Schweizer Mutter mit einem deutschen Mann. Ihre Kinder können keinen Schweizer Pass erhalten. 1973 sagte sie dazu in der Wochenschau: «Die jetzige Situation erscheint mir auf jeden Fall problematisch. Hinter der jetzigen Regelung steckt noch die mittelalterliche Vorstellung, das Kind stamme alleine nur vom Vater ab.»
Nur nicht auffallen als Mutter
Als erste Frau wird Hanna Sahlfeld-Singer während ihres Mandates im Parlament Mutter, sie bringt ihr zweites Kind zur Welt. Viel Aufhebens will sie damals nicht machen um ihr Muttersein. Ganz besonders wollte sie damals nicht mit Sonderwünschen kommen. Ein Stillzimmer – so eines, wie es heute im Bundeshaus gibt – daran hat sie gar nicht zu denken gewagt. «Dann hätte ich nochmals eine Angriffsfläche geboten», sagt Sahlfeld-Singer. Sie wollte nicht auffallen als Mutter, damals habe man schnell als Rabenmutter gegolten.
Sticheleien gegen das Ehepaar
Fakt ist, Hanna Sahlfeld-Singer ist jung, eine Linke, eine Mutter, und sie hat auch noch einen deutschen Mann, der die Kinderbetreuung übernimmt. In Altstätten, überhaupt beim reformierten Freisinn in ihrem Kanton, ist Sahlfeld-Singer für viele eine Provokation. Sie und ihr Mann sind Sticheleien ausgesetzt. Schliesslich legt er das Amt als Pfarrer nieder. Trotz Pfarrermangel findet er aber keine Stelle mehr im Kanton. Am Ende zieht er nach Deutschland. Dort findet er, was ihm entspricht. Hanna Sahlfeld-Singer blieb vorerst, entschied sich dann aber wenig später, ihrem Mann zu folgen.
Ich kam mir schlecht vor wegen der Frauen.
«Ich habe immer mehr an Kraft verloren und bin dann auch gegangen», sagt Sahlfeld-Singer. Das habe weh getan. «Ich kam mir schlecht vor wegen der Frauen.» Sie habe das Gefühl gehabt, sie lasse die Frauen in der Schweiz im Stich.
Doch die Opfer, die haben sich gelohnt. Die Bundesrätinnen stellen sich beim Fotoshooting gerne neben Hanna Sahlfeld-Singer. Der Dank gehört ihr. Denn heute sind sogar Bundesrätinnen eine Selbstverständlichkeit. Eine Schweiz ohne Frauen an der Spitze in der Politik – das ist Vergangenheit.