2019 stoppte die grüne Welle die erfolgsverwöhnte SVP. Die Partei verlor fast vier Prozentpunkte Wähleranteile, weil Migration, Asyl und Europa kaum ein Thema waren. Im ersten Jahr der Pandemie schwang der Bundesrat das Zepter, die Parteien hatten wenig zu melden.
Jetzt aber nimmt die SVP wieder einmal die Gegenposition ein: Bei der ersten Abstimmung zum Covid-Gesetz im Juni beschloss die SVP Stimmfreigabe, jetzt bekämpft sie das Gesetz offen, das Ende November zum zweiten Mal vors Volk kommt.
Die Unzufriedenen im Visier
Seit Monaten wettert sie gegen das Zertifikat, das BAG oder Bundesrat Berset. So umgarnt sie demonstrierende Corona-Skeptiker und Massnahmen-Kritiker. Die SVP will die Post-Covid-Politik bestimmen und an die alten Erfolge anknüpfen – mit dem Rezept von Christoph Blocher: Wählerinnen und Wähler mobilisieren, koste es, was es wolle.
Die Unzufriedenen an sich binden, diese Chance lasse sich die SVP nicht entgehen, sagt Politologe Claude Longchamp: «Man will möglichst viele Leute hinter sich versammeln, die mit den gegebenen Umständen unzufrieden sind.» Im Visier hat die SVP auch die 40 Prozent, die das erste Covid-Gesetz im Juni ablehnten.
Man will möglichst viele Leute hinter sich versammeln, die mit den gegebenen Umständen unzufrieden sind.
Doch mit dieser Kampagne stösst die SVP auch ihre eigenen Leute vor den Kopf. Bundespräsident Guy Parmelin etwa. Auch mehrere kantonale SVP-Gesundheitsminister stellen sich gegen ihre Partei. Zum Beispiel der Berner Pierre-Alain Schnegg. Er mache nicht primär Parteipolitik, liest man in den bernischen Tamedia-Zeitungen.
Fraktionschef Aeschi unbesorgt
Im Aargau lieferten sich der SVP-Gesundheitsminister und der kantonale Parteipräsident eine wüste Auseinandersetzung um die richtige Corona-Politik. Diese Radikalität sieht Politologe Longchamp als Belastung für die SVP.
Dass sich SVP-Exponenten öffentlich bekriegen, ist für SVP-Fraktionschef Thomas Aeschi hingegen kein Problem: Er verweist auf die Regeln in Kollegialbehörden wie Regierungsräten und dem Bundesrat: «Das heisst, dass das einzelne Mitglied nach aussen nicht mehr seine persönliche Meinung vertritt, sondern kollegial jene des Gremiums.»
Gewagt: Schmarotzer-Vorwurf an die Städte
Noch riskanter beurteilt Politologe Longchamp jedoch die SVP-Polemik gegen die Städte, die als Schmarotzer bezeichnet wurden. Denn hier gehe es um einen wesentlichen Teil der Schweizer Bevölkerung. «Das Stereotyp, das man hier bedient, trifft nicht viele Entfremdete und im Ausland lebende oder vom Ausland her kommende Menschen, sondern die Menschen hier.»
Das Stereotyp, das man hier bedient, trifft nicht viele Entfremdete oder im Ausland lebende, sondern die Menschen hier.
Ob die Rechnung für die SVP am Ende aufgeht? Im Aargau hat sie bei den Gemeindewahlen kürzlich stark verloren. Das könne sich wiederholen, meint Longchamp, aber national habe die SVP Potenzial: «Wenn die Bundespartei sich erholt, ihre Stärken in der Mobilisierungsfähigkeit eines wesentlichen Teils der Schweizer Bevölkerung zurückgewinnt, kann sie das wahrscheinlich auch kompensieren.»
Die zweite Abstimmung über das Covid-Gesetz am 28. November wird zeigen, ob die SVP mit ihrer Nein-Parole mehr als ihre Stammwählerschaft mobilisieren kann.