Der problematische Alkoholkonsum nimmt nach der Pensionierung sprunghaft zu. Jeder dritte Rentner trinkt täglich Alkohol – Tendenz steigend. Wichtige Präventionsmassnahmen würden fehlen, sagt Christian Lorenz, Chefpsychologe der Suchtklinik Forel, im «Tagesgespräch» von Radio SRF.
SRF News: Wieso haben viele Rentnerinnen und Rentner ein Alkoholproblem?
Christian Forel: Im höheren Lebensalter erlebt man mehr Verluste. Man erlebt Verluste von Gesundheit, von Autonomie. Möglicherweise sterben sogar schon Angehörige oder vertraute Personen. Und sicher eines der einschneidendsten Verlusterlebnisse im höheren Alter ist das Aufhören zu Arbeiten mit der Pensionierung. In einer solchen Phase müssen sich viele Menschen neu sortieren und greifen dann zum Alkohol.
Übermässiger Alkoholkonsum wird oft mit Jugendlichen in Verbindung gebracht. Aber: In keiner Altersgruppe ist der problematische Alkoholkonsum so verbreitet wie bei den 65- bis 74-Jährigen.
Das ist so. Punktueller, riskanter Konsum ist das von Ihnen angesprochene Rauschtrinken. Das findet bei jungen Menschen, vor allem bei Männern statt.
Mehr Seniorinnen und Senioren gehen freiwillig in Suchtkliniken.
Bei betagteren Menschen ist dieser punktuelle Risikokonsum nicht so häufig, aber dafür der tägliche Alkoholkonsum. Dieser chronisch riskante Konsum, mehr als zwei Standarddrinks pro Tag, steigt im höheren Alter an.
Wieso ist die Tendenz steigend, wieso gibt es immer mehr alkoholsüchtige Rentnerinnen und Rentner?
Wir haben eine höhere Sensibilität für das Thema, mehr Seniorinnen und Senioren gehen freiwillig in Suchtkliniken. Die Forel Klinik ist die grösste Klinik in der Schweiz in der Behandlung von Alkoholabhängigkeit. Die Anzahl Rentnerinnen und Rentner in der Klinik hat sich 2022 gegenüber dem Vorjahr verdoppelt.
Zudem gibt es eine demografische Entwicklung. Absolut gesehen nimmt die Zahl der höher betagten Menschen schlicht zu. Und wenn wir wissen, dass in dieser Altersgruppe der tägliche Alkoholkonsum häufiger ist, dann ist klar, dass die absolute Zahl derer, die täglich konsumieren, damit auch steigt.
Studien des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) zeigen, dass ein hoher Alkoholkonsum im Alter einen Risikofaktor auf Krankheiten wie Krebs, Diabetes oder Bluthochdruck darstellt. Was sind denn andere Gründe, wieso ältere Menschen sensibler auf Alkohol reagieren?
Die Stoffwechselkapazitäten sind eingeschränkt, das heisst, der Alkoholkonsum hat eine stärkere Wirkung. Im höheren Alter steigt auch sofort die Sturzgefahr, die kognitiven Einbussen sind erheblich.
Es braucht mehr Sensibilität, um die Betroffenen zu erreichen.
Die Weltgesundheitsorganisation prognostizierte, dass sich der problematische Konsum im Alter zu einem grossen Gesundheitsproblem entwickeln könnte. Ist unser Gesundheitssystem auf diese Entwicklung vorbereitet?
Es fehlen Suchtbehandlungen für zu Hause. Es ist schwieriger für ältere Menschen beispielsweise eine Tagesklinik wie unsere aufzusuchen. Hausbesuche sind aber momentan noch schwieriger umzusetzen und deren Finanzierbarkeit ist noch nicht gesichert. Es braucht in der Gerontomedizin, in der hausärztlichen Medizin und in der Alterspflege mehr Sensibilität, um die Betroffenen zu erreichen.
Wenn heute eine gesunde Ernährung zum Lifestyle gehört, dann kann die Prävention so Jugendliche erreichen, aber den 80-Jährigen, der es gewohnt ist, ein Glas Rotwein zum Mittagessen zu trinken, den erreicht man damit nicht. Da braucht es eine Differenzierung und besondere Angebote.
Das Gespräch führte David Karasek.