Daniel Stähli liegt nach einer Operation im Spital. Mit einer belastenden Diagnose: Blasenkrebs. Das Tumorgewebe wird entnommen und zur Analyse ins Labor geschickt. «Der Arzt sagte, dass wir den Bericht abwarten müssen», sagt Stähli.
Irgendwann ist klar gewesen: Die Probe ist verloren gegangen.
Doch dieser Bericht kommt nicht, obwohl er wichtig wäre. Er würde zeigen, wie weit eingewachsen der Krebs war. Stähli wird entlassen, ohne je den Befund dieser Probe erhalten zu haben. Die Ärzte behandeln ihn weiter.
Nach mehrmaligem Nachfragen wurde dann klar: «Die Probe ist verloren gegangen.»
Überlebenschancen: kaum
Wenige Monate später schwillt bei einer Geschäftsreise plötzlich sein Bein an. Zu Hause dann die Hiobsbotschaft: Der Krebs hatte ins Lymphsystem gestreut. Stähli wurde damals eine Überlebenschance von weniger als fünf Prozent prognostiziert.
Verlorene Proben, falsche Medikation und Patienten, die verwechselt werden: Fehler wie in Stählis Fall passieren nicht selten.
Jeder zehnte Patient oder Patientin erleidet wegen Behandlungsfehlern gesundheitliche Schäden. Fünf Prozent davon solche, die eigentlich vermeidbar gewesen wären, so die Schätzungen des Bundesamts für Gesundheit (BAG). Doch wie lassen sich Spitäler sicherer machen?
Fehler melden, um Systemfehler zu erkennen
Ein Ansatz ist das anonyme Meldesystem Cirs (Critial-Incident-Reporting). Inspiriert von einem System der Nasa für die Flugsicherheit, wurde es bereits vor 29 Jahren in der Schweiz entwickelt.
Politik und Verwaltung wollen Cirs künftig flächendeckend einführen. Für neue Betriebe – auch ambulante Hausarztpraxen – ist es ein Zulassungskriterium. Für Spitäler ist es bereits obligatorisch. Doch Recherchen von SRF Investigativ zeigen: Das System funktioniert vielerorts unzureichend.
Die Idee: Alle kritischen Ereignisse in Spitälern können anonym gemeldet und analysiert werden, um systemische Gefahren aufzudecken. Durch entsprechende Massnahmen sollten die gleichen Fehler verhindert – respektive deren Risiko minimiert – werden können.
Missstände und «Meldefriedhöfe»
«Wir sind irgendwo auf dem Weg falsch abgebogen», sagt Sven Staender, der Cirs in der Schweiz mitentwickelt hat. «Man hat sich gedacht, man wirft das ins Spital rein, schult vielleicht noch die Mitarbeiter, wie man das umsetzt, aber ansonsten muss sich niemand weiter darum kümmern.»
Man habe Cirs nicht mit den nötigen Ressourcen ausgestattet, um es zu betreiben, sagt Staender. Nicht nur die tiefergehende Analyse von Vorfällen, auch die Massnahmen danach blieben häufig auf der Strecke.
Eine weitere Schwachstelle des Systems: «Cirs wird genutzt wie ein Abbild der Realität – ist aber in Wirklichkeit extrem verzerrt», sagt Yvonne Pfeiffer. Sie ist Lehrbeauftragte für Patientensicherheit am Institut für Pflegewissenschaft der Universität Basel. Viele Ereignisse seien über-, andere gleichzeitig unterrepräsentiert. Das läge auch daran, dass Cirs nicht vom gesamten Gesundheitspersonal gleich häufig genutzt würde. «Von Cirs wird viel erwartet, das es nicht erfüllen kann.»
Ich könnte täglich Meldungen erfassen, aber es passiert sowieso nichts.
Auch Pflegende melden Missstände. SRF hat mit Dutzenden gesprochen. Die Bandbreite, wie sorgfältig Cirs in den Spitälern bewirtschaftet wird, ist gross. «Ich könnte täglich Meldungen erfassen, aber es passiert sowieso nichts» – so die Kritik einer Pflegenden.
Diese kennt auch Carla Hubacher* (Name geändert). Sie gehörte zu einem Team, das Cirs-Meldungen bearbeitete. Über 1000 Meldungen werden in einem grösseren Schweizer Spital pro Jahr erfasst.
Carla Hubacher findet das Meldesystem wichtig. Oft fehle aber die Zeit für tiefgreifende Analysen: «In gewissen Spitälern wird mehr Zeit investiert, gar eine Stelle gesprochen», sagt sie. Zahlreiche Pflegende berichten aus verschiedenen Spitälern auch Positives, zum Beispiel von einer guten Fehlerkultur dank Cirs.
Andernorts werde aber zum Teil gar nichts mit den Meldungen gemacht, weiss sie. «Man hat es einfach, weil man muss, das habe ich schon öfter gehört. Aber niemand bearbeitet es». Man werte damit höchstens eine Statistik aus. Weitere Pflegefachfrauen berichten, dass die Stationsleitung sie gar angewiesen hätte, keine Meldungen mehr zu erfassen, zum Beispiel «weil es ein schlechtes Licht auf die Station werfe.»
Überarbeitung gefordert
Sven Staender, der Miterfinder des Cirs, kommt zum Schluss: «Leider ist es in gewissen Spitälern zum Meldefriedhof verkommen», darum müsse man jetzt unbedingt gegensteuern. Aus der Flut der Meldungen müssten die wichtigen erkannt und eingehend analysiert werden, so Staender.
Man müsste einen Reset machen.
Staender wünscht sich ein «Cirs 2.0»: «Man müsste einen Reset machen. Man sollte vermeiden, dass man im Spital-Jahresbericht angibt, wie viele Fälle gemeldet worden sind. Das bringt nichts.» Und man müsse Ressourcen hineinstecken, dass Analysen nach Vorfällen gemacht werden könnten.
Spitäler handhaben Cirs unterschiedlich
SRF hat die zehn grössten Spitäler angefragt, wie häufig aus Cirs-Meldungen Massnahmen erfolgen. Die Spannweite ist enorm: mancherorts erfolgt nur nach jeder fünften Meldung eine Massnahme, andernorts praktisch nach jeder. Aber: Die Spitäler definieren ihre Massnahmen selbst, deshalb sind die Werte nur bedingt vergleichbar.
Als schwache Massnahme gelten Sensibilisierungsmassnahmen, wenn das Personal zum Beispiel an eine Regel erinnert wird.
Wir kennen die Regeln. Wenn man sie nicht einhält, gibt es dafür andere Gründe.
«Wenn auf eine Cirs-Meldung das Feedback kommt, dass man eine Checkliste beachten soll, bringt das nicht so viel». Die Regeln seien bekannt. «Wenn man sie nicht einhält, gibt es dafür häufig andere Gründe», sagt Pflegefachfrau Carla Hubacher*.
Hier könne beispielsweise eine stärkere Massnahme eine nachhaltige Verbesserung bewirken, zum Beispiel wenn die Infrastruktur auf der Station angepasst werde.
Transparente Fächer eingebaut
So wie auf der Notaufnahme im Spital Emmental, wo es Probleme mit Blutkulturen gab. In der Hektik der Notfallstation waren unzulängliche Prozesse für das Personal eine zusätzliche Belastung.
Blutkulturen, die man den Notfallpatienten entnommen hatte, wurden vergessen oder zu spät ins Labor geschickt. «Weil man nicht recht gewusst hat, ob sie später noch benötigt werden, sind die Blutproben einfach in einem Fach ausserhalb vom Patientenzimmer verstaut worden», sagt die stellvertretende Chefärztin, Eva Maria Genewein.
Genewein hat gehandelt und bei jedem Bett transparente Fächer anbringen lassen, in denen die Blutkulturen nun aufbewahrt werden.
Eine kleine Anpassung mit grosser Wirkung: Spätestens beim Aufräumen des Betts stolpere die Pflegenden jetzt über diese Fläschchen. Es werde einem quasi vor die Füsse geworfen, sagt Genewein. «Das Qualitätsproblem und der mühsame Ablauf wurden verbessert.»
Wir dürfen jetzt nicht sagen, Cirs bringt nichts. Das wäre, wie wenn man sagt, ich habe Mühe mit dem Besteck, also schaffen wir das Besteck ab.
Im Spital Emmental konnten so Probleme behoben werden. Cirs abzuschaffen, ist darum weder für die Ärztin noch für Staender eine Option.
«Wir dürfen jetzt nicht sagen, Cirs bringt nichts. Das wäre genauso, wie wenn man sagt, ich habe Mühe mit dem Besteck, also schaffen wir das Besteck ab und essen ab jetzt ohne Besteck», sagt Staender. «Wir müssen lernen, mit dem Besteck richtig umzugehen. Und wir müssen weitere Instrumente finden.»
Stähli kämpft sich zurück ins Leben
Das Spital wollte Daniel Stähli nur noch palliativ behandeln. Stähli wird schliesslich nochmals operiert von einem anderen Arzt. Heute geht es ihm gut.
Mit der Hilfe von Anwälten hat Stähli erwirkt, dass sein verloren gegangener Befund viele Jahre später doch noch gefunden wurde: Ein falsches Geburtsdatum hatte wohl dazu geführt, dass der Bericht mit dem wichtigen Befund nicht zugeordnet werden konnte und in den Tiefen des IT-Systems des Spitals verschwand.
Fehler passieren, wie in jedem anderen Betrieb.
Ob seine Krankengeschichte mit dem Befund anders verlaufen wäre, bleibt ungewiss. Sicher aber ist: Ein vermeintlich kleiner Fehler bedeutete für Stähli und seine Familie viel Leid.
Groll hegt er wegen des Spitalfehlers keinen. «Fehler passieren, wie in jedem anderen Betrieb auch. Das ist menschlich.» Er hofft aber, dass man versuche, daraus zu lernen: «Ich wünsche mir ein bewusstes Umgehen mit solchen Fehlern und eine Anpassung von Strukturen – im Wissen, dass sie in Spitälern passieren können.»
Das betroffene Spital wollte gegenüber SRF aus Gründen des Patienten- und Datenschutzes keine Stellung zum Fall nehmen.