«Gewisse jüdische Menschen verstecken die Kippa unter dem Hut, andere nehmen den Davidstern von der Halskette und dritte schicken ihre Kinder nicht mehr zur Schule.» So schildert der Präsident des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds (SIG), Ralph Lewin, die grosse Verunsicherung in der jüdischen Gemeinde seit dem Messerangriff in Zürich auf einen orthodoxen Juden. Was Lewin dabei besonders nahe geht: «Der Jugendliche war erst 15 Jahre alt, er ging hier zur Schule, warum merkte das niemand?»
Radikalisierung an den Schulen bleibt zu oft unbemerkt
Eine Frage, die auch Ester Meier, Amtsleiterin der Fachstelle für Radikalisierung und Gewaltprävention der Stadt Bern, beschäftigt. Sie arbeitet mit radikalisierten Jugendlichen und kritisiert, dass die Alarmzeichen beim Täter in Zürich nicht erkannt wurden: «Sich stark zurückzuziehen, kann ein typisches Muster für eine Radikalisierung sein.»
Wenn Lehrpersonen oder das Umfeld Auffälligkeiten feststellten, müsse das umgehend den Fachstellen gemeldet werden. «Auch wenn es nur etwas Kleines ist, das einen am Verhalten eines Jugendlichen verunsichert.» Je früher man Tendenzen zur Radikalisierung erkenne, desto höher sei der Erfolg einer Deradikalisierung. «Was wir aber oft sehen, ist, dass es bemerkt, aber nicht gemeldet wird», so Meier.
Extremismusfachstellen gibt es schweizweit. In der Stadt Bern arbeitet diese mit Mentoren, Sozialarbeiterinnen und der Polizei zusammen. Sensibilisierung und Aufklärung muss aber bereits vorher an der Schule passieren.
Was ist die Aufgabe der Schule?
Einer, der solche Aufklärungsarbeit leistet, ist Erik Petry, Professor für jüdische Geschichte. Mit dem Projekt Likrat vom SIG ist er an Schweizer Schulen unterwegs. Der Historiker spricht mit Jugendlichen über die Verfolgung und Vorurteile gegenüber Juden und schafft Begegnungen mit jüdischen Schülerinnen und Schülern. «Auch mir wurde erzählt, dass jüdische Kinder angespuckt und als ‹scheiss Judenkind› bezeichnet werden.»
Um dem entgegenzuwirken, müsse die Geschichte in den Schulen wieder einen grösseren Platz einnehmen. Die Frage sei, mit welchem Bild vom Judentum die Kinder aufwachsen: «Nicht alle Lehrpersonen müssen Spezialisten sein. Aber sie müssen wissen, wen sie zur Hilfe holen können», so Petry.
Eine Erkenntnis, die der Präsident des Schweizer Schulleiterverbands, Thomas Minder, teilt. Auch wenn die Schulen bereits Toleranz lehren, «eine spezifische Expertise zum Thema Antisemitismus gehört nicht zu den Kernkompetenzen vieler Lehrpersonen.»
Als Gesellschaft gegen Antisemitismus
Im Umgang mit Antisemitismus seien alle in der Pflicht, doch für Ralph Lewin ist klar: «Wir haben hohe Erwartungen an die Erziehungsdirektorenkonferenz im Umgang mit Antisemitismus. Es ist wichtig, dass die Menschen damit vertraut werden, was das Judentum ist und wie jüdische Leute sind. Kommen sie vom Mars oder sind das Menschen wie du und ich?» Es gehe darum, den Menschen zu sehen und nicht primär seine Religion.
Eben hat der Nationalrat einem nationalen Aktionsplan gegen Antisemitismus und Rassismus zugestimmt. Die Politik könne Leitplanken schaffen. Die Bekämpfung von Antisemitismus bleibe aber eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, ist sich die Runde im «Club» einig.