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Thomas Müller: ADHS – eine Modekrankheit?
Aus Tagesgespräch vom 29.04.2024. Bild: ZVG
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Aufmerksamkeitsdefizit «Früher ist man das ADHS-Problem eher mit Kopfnüssen angegangen»

Der Einsatz von Ritalin oder ähnlichen Medikamenten gegen die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung ADHS steigt. Heute erhalten dreimal so viele Jugendliche und Erwachsene ADHS-Medikamente als noch in den Nullerjahren. Auch haben die Wartezeiten für eine medizinische Abklärung bei Verdacht auf ADHS einen neuen Höchststand erreicht. Thomas Müller, Professor für Psychiatrie an der Universität Bern, über die Diagnose und mögliche Behandlung von ADHS.

Thomas Müller

Professor für Psychiatrie

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Der Professor für Psychiatrie an der Universität Bern, Thomas Müller, ist auch ärztlicher Direktor der Privatklinik Meiringen und Co-Präsident bei der Schweizerischen Fachgesellschaft für ADHS.

SRF News: Vor 40 Jahren gab es noch kaum Kinder, bei denen ADHS diagnostiziert wurde. War das ein Fehler?

Thomas Müller: Ja, das war ein Fehler. Vor zwei Jahren sass ich bei meinen Eltern zu Hause und habe einen meiner Schulkameraden diagnostiziert. Und es zeigt sich: Sein ganzes Leben ist geprägt von der Nicht-Behandlung seiner ADHS-Erkrankung. Das ist sehr schade, und man hätte viel früher etwas tun können. Doch damals achtete niemand auf ADHS. Man ist das Problem eher mit Kopfnüssen oder ähnlichem angegangen.

Gibt es tatsächlich so viel mehr ADHS-Fälle als früher oder ist es auch eine Mode-Erscheinung?

Sicher hat die Aufdeckung von Fällen zugenommen, zugleich hat die Stigmatisierung von psychischen Erkrankungen abgenommen. Allerdings ist es auch eine Mode geworden, sich eine Diagnose zu geben.

Für eine ADHS-Diagnose muss tatsächlich ein Leiden vorhanden sein.

Man schaut also viel stärker auf sich selber und man wird stärker auf mögliche Diagnosen hingewiesen. Schwierig ist für uns abzuwägen, wer tatsächlich an ADHS erkrankt ist und wer nicht. Wichtig ist: Für eine Diagnose muss tatsächlich ein Leiden vorhanden sein – möglicherweise auch für die Familie eines Kindes.

Wie äussert sich ADHS?

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Legende: Keystone/Julian Stratenschulte

Die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung ADHS umfasst ein ganzes Spektrum von Symptomen: ausgeprägte innere Unruhe, Vergesslichkeit, man lässt ständig alles liegen, Auffälligkeiten in der Schule, aus dem Nichts heraus losreden – diese Symptome sind eher bei Kindern zu beobachten.

Erwachsene dagegen machen etwa mehr Sport, teilweise auch Risiko-Sportarten. Andere werden drogenabhängig oder haben zusätzliche psychiatrische Erkrankungen.

Das Medikament Ritalin hilft bei ADHS-Patienten, dass sie innerlich ruhiger werden und sich konzentrieren können. Bei Patientinnen und Patienten, die älter als 18 Jahre sind, geschieht die Verschreibung «off-label» und wird in der Regel nicht von der Krankenkasse übernommen.

Mehr Informationen und Hilfe finden Sie bei der ADHS-Fachstelle Elpos Schweiz.

Ist Ritalin bei der Behandlung von ADHS tatsächlich derart erfolgreich?

Die Wirksamkeit von Ritalin ist tatsächlich erstaunlich. Wenn die Diagnose stimmt und die richtige Dosis Ritalin abgegeben wird, sehen wir sehr wirksame Besserungen bei den Patientinnen und Patienten. Dabei gibt es auch Nebenwirkungen, die allerdings weniger schlimm sind, als zunächst befürchtet worden war. So gilt Ritalin etwa auch als Appetitzügler, insofern kann die Behandlung zu einer Gewichtsabnahme führen, in Einzelfällen zu Wachstumsverzögerungen. Möglich sind auch Herzrhythmus-Veränderungen, die allerdings nicht dramatisch sind.

Erfolgreicher auf der Jagd dank ADHS?

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«Es gibt auch total positive Seiten an ADHS», sagt Professor Müller. So sei es stets sehr spassig, sich mit einer Person mit ADHS zu unterhalten. «Sie sind tendenziell ideenreich, kreativ oder risikobereit.» Und menschheitsgeschichtlich müsse ADHS ja irgendeinen Vorteil gebracht haben – oder zumindest keinen allzu grossen Nachteil –, sonst wären die Menschen mit ADHS ausgestorben, so der Psychiater. «Sie waren vielleicht erfolgreicher bei der Jagd oder in einem anderen Bereich.» Doch in der heutigen Gesellschaft, mit ihren modernen Anforderungen an den Einzelnen, könne ADHS mit Symptomen wie Unaufmerksamkeit, Unkonzentriertheit und innerer Unruhe durchaus ein Problem darstellen. «Wir sind halt nicht mehr Jäger und Sammler», so Müller.

Betroffene müssen derzeit in der Schweiz bis zu einem Jahr warten, bis sie überhaupt auf ADHS abgeklärt werden. Gibt es eine Versorgungskrise?

In der Tat ist diese lange Wartezeit für viele Betroffene eine Qual. Ein Problem ist dabei ein Mangel an auf ADHS spezialisierten Psychiaterinnen und Psychiatern. Man müsste sich deshalb überlegen, ob nicht auch Psychologen eine ADHS-Diagnose stellen können. Man muss auch darüber nachdenken, wo man die Prioritäten setzen will. Das betrifft sowohl die Fachgesellschaften als auch die Politik. So müsste man etwa den Beruf der Jugendpsychiaterin attraktiver machen.

Manche Patientinnen lassen sich selbst im hohen Alter noch behandeln.

Heute weiss man, dass auch rund drei Prozent der Erwachsenen an ADHS leiden. Wie wichtig ist eine Diagnose im Erwachsenenalter?

Viele Lebensläufe sind wegen ADHS anders, als sie es ohne ADHS wären. Die Betroffenen spüren etwa, dass sie nicht das erreichen, was sie eigentlich erreichen können sollten. Oder sie haben Probleme im privaten Bereich, etwa mit Beziehungen, oder sie werden straffällig. Manche kommen dann zu uns, nachdem sie sich selber behandelt haben – etwa mit Kokain. Denn wer unter ADHS leidet, wird mit dem Stoff ruhiger. Tatsache aber ist, dass sich Menschen selbst in hohem Alter noch behandeln lassen können.

Das Gespräch führte David Karasek.

Tagesgespräch, 29.4.2024, 13:00 Uhr ; 

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