Die Schweiz ist ein Land der Sprachenvielfalt – und eine scheinen alle fliessend zu beherrschen: die Einsprache. Ob Schattenwurf oder Lärmpegel – der Widerstand der Schweizerinnen und Schweizer zeigt sich bürokratisch, in Einsprachen und Rekursen.
Einsprachen seien ein Instrument des Rechtsstaats, das den Einzelnen gegenüber der Mehrheit schütze, sagt Peter Hettich, Professor für öffentliches Recht an der Universität St. Gallen. Aber: «Die Einsprache gibt Einzelpersonen auch viel Macht.» So wird oft rege zwischen Nachbarn oder Anwohnern und Baufirmen darüber gestritten, was eine legitime Einsprache ist.
Einsprachen gibt es gegen vieles: Solaranlagen, Antennen, Veranstaltungen. Insbesondere kommen Einsprachen aber bei Bauprojekten zum Zug.
Ein langer Atem bis zur Baubewilligung
Die bürokratischen Beschwerden werden immer beliebter: Im Kanton Basel-Stadt etwa gab es 2023 750 Einsprachen gegen Bauten, gut 50 Prozent mehr als noch 2020. In der Stadt Zürich gibt es keine Einsprachemöglichkeit, sondern direkt den Rekursweg. Und dieser wird immer häufiger genutzt: 2022 waren es knapp 37 Prozent mehr Rekurse als noch 2010, bei den Neubauten waren es 2022 fast doppelt so viele als noch 2010.
Durch Einsprachen und Auflagen sind Bauprozesse in letzter Zeit immer langwieriger geworden. So analysierte die Zürcher Kantonalbank in einer Studie 2023, dass mehr und mehr Tage zwischen einem Baugesuch und der erteilten Baubewilligung verstreichen. In der Schweiz waren es 2022 im Durchschnitt 140 Tage – knappe 70 Prozent mehr als noch 2010.
Lärmschutz als beliebtes Mittel
Besonders gewiefte Einsprache-Kenner machen sich vor allem den Lärmschutz zunutze. Bis 2016 galt die «Lüftungsfensterpraxis»: Nur ein offenes Fenster im lärmempfindlichen Raum musste die Lärmgrenze einhalten. Doch ein Bundesgerichtsentscheid 2016 zog die Schrauben an. Nun darf bei keinem einzigen Fenster der Lärmrichtwert überschritten werden. «Seither sind Lärmschutzbestimmungen ein beliebtes Trittbrett für einfache Einsprachen», sagt Ursina Kubli, Leiterin Immobilien Research bei der Zürcher Kantonalbank.
Das Besondere daran: Um die unliebsame Siedlung zu verhindern, muss man gar nicht direkt vom Lärm gestört sein. «Wenn man zeigen kann, dass man vom Bauprojekt betroffen ist, etwa als Nachbar, kann man danach jegliche Gründe anführen. Auch den Lärmschutz, der einen selbst nicht betrifft», erklärt Rechtsprofessor Peter Hettich. Doch die immer beliebteren Lärmschutz-Einsprachen laufen dem aktuellen Bautrend zuwider: «Der stärkere Lärmschutz und die angestrebte Verdichtung in der Stadt beissen sich», bringt es Ursina Kubli auf den Punkt.
Zehn Prozent der bewilligten Bauprojekte kommen nicht zustande
Ist die Baubewilligung einmal erteilt, können Rekurse die Bauprojekte noch kippen. «Ein Baurekurs ist relativ günstig, die Gerichtskosten sind tief verglichen mit Zivilprozessen», sagt Rechtsprofessor Hettich. Zudem scheine es im Trend zu liegen, seine Standpunkte per Recht durchzusetzen. Laut der ZKB-Studie wurden von 2010 bis 2020 satte 10 Prozent aller bewilligten Bauprojekte unter anderem wegen Rekursen nicht realisiert. 4000 Wohnungen gingen so jährlich verloren, Tendenz steigend.
Einsprachen und Rekurse sind ein wichtiges Werkzeug für einen intakten Rechtsstaat – solange sie nicht zum Volkssport werden.