Acht Menschen wurden am 23. August 2017 durch den Bergsturz bei Bondo (GR) verschüttet und starben. Nach über sechs Jahren veröffentlicht der «Beobachter» nun die Resultate eines neuen Gutachtens, das die Zeitschrift auch dem Nachrichtenmagazin «10 vor 10» von SRF zur Verfügung gestellt hat.
Der Bergsturz hatte sich durch zahlreiche Vorboten angekündigt.
Eine Risikoberechnung im unabhängigen Gutachten zeigt: Das Bondasca-Tal, wo die Menschen auf einem Wanderweg ums Leben kamen, hätte vorsorglich gesperrt werden müssen. Der von der Bündner Staatsanwaltschaft beauftragte Gutachter, Thierry Oppikofer, schreibt: «Der Bergsturz hatte sich durch zahlreiche Vorboten angekündigt.»
So ergaben Radarmessungen zwei Wochen vor dem Bergsturz eine deutliche Veränderung am Piz Cengalo. Der instabile Fels bewegte sich fast dreimal so schnell wie im Vorjahr. Auch war der Berg unruhig, laut Gutachten gab es in den letzten beiden Wochen fast 40 Stürze. «Diese Vorboten mussten nicht zwangsläufig zu einem Bergsturz ‹in den nächsten Tagen› führen, aber eine solche Entwicklung konnte auch nicht ausgeschlossen werden», so Oppikofer.
Der Westschweizer Gutachter kommt laut «Beobachter» also zu anderen Schlüssen als das zuständige Amt für Wald und Naturgefahren (AWN). Dieses hatte in einem Bericht dargelegt, der Bergsturz sei nicht vorhersehbar gewesen. Daraufhin stellte die Bündner Staatsanwaltschaft das Verfahren zwei Jahre nach dem Unglück ein. Aufgrund eines Bundesgerichtsentscheids musste der Fall jedoch neu aufgerollt werden.
Der Kanton hatte der Gemeinde Bregaglia knapp zehn Tage vor dem Bergsturz empfohlen, die Wanderwege offenzulassen und die Warntafeln mit der Information anzupassen, der Bergsturz komme in den kommenden Wochen und Monaten. Laut dem «Beobachter» war das Amt überzeugt, dass sich ein grosser Bergsturz ankündigen würde, «mit kurzfristig gehäuften und zunehmend grösseren Felsstürzen».
Die Behörden rechneten mit einem grösseren Abbruch «gegen Ende Jahr». Geologe Oppikofer sagt, diese Absturzprognose sei «problematisch». Die Daten seien zu dürftig gewesen, um eine solche Aussage zu treffen.
Der Gutachter berechnete das Risiko, auf dem Wanderweg zu sterben. Sein Schluss: Das Risiko hatte sich durch die neue Gefahrenprognose «in den kommenden Wochen und Monaten» erheblich verschärft. Im Klartext: Es war lebensgefährlich. Deshalb hätte der Wanderweg vorsorglich gesperrt werden müssen.
Meilenstein in der juristischen Aufarbeitung
Die Anwälte des Kantons stellen die Berechnungen infrage: «Wir sind nach wie vor der Ansicht, dass das Strafverfahren einzustellen ist.» Die Eigenverantwortung sei hier hoch einzustufen. Zudem sei mit Gefahrentafeln auf die Bedrohung aufmerksam gemacht worden.
Es geht um die Frage, ob die Behörden ihre Sorgfaltspflicht verletzt haben oder nicht.
Das neue Gutachten ist ein Meilenstein in der juristischen Aufarbeitung und vor allem ein Etappensieg für die Angehörigen. Laut Felix Bommer, Strafrechtsprofessor an der Universität Zürich, liefert es wichtige Erkenntnisse in der Beurteilung, ob der Tatbestand der fahrlässigen Tötung vorliegen könnte.
Er sagt gegenüber «10vor10»: «Es geht um die Frage, ob die Behörden ihre Sorgfaltspflicht verletzt haben oder nicht. Dafür ist die Vorhersehbarkeit des Ereignisses die wichtigste Voraussetzung», sagt Bommer. Anfang 2024 wird die Bündner Staatsanwaltschaft über das weitere Vorgehen entscheiden. Ob Anklage erhoben werde, könne man zum jetzigen Zeitpunkt nicht sagen.