Viel reisen, andere Staatsoberhäupter treffen und dabei aussenpolitisch wichtige Weichen zu stellen versuchen: Diese Ziele würde man von einem Aussenminister erwarten, der ein Jahr lang als Bundespräsident amten darf. Jetzt, in der europapolitischen Sackgasse, sowieso.
Denn einem Bundespräsidenten öffnen sich auf EU-Ebene Türen, die einem Aussenminister normalerweise verschlossen bleiben – weil EU-Spitzenleute auf Augenhöhe diskutieren wollen und darum vor allem Präsidentinnen und Präsidenten empfangen.
Anderes Vorgehen als Burkhalter
Doch dieses Bewegen und Bewirken auf internationalem Parkett, das zum Beispiel den damaligen Bundespräsidenten Didier Burkhalter so anzog, reizt Ignazio Cassis offenbar wenig. Er habe sich entschieden, sich auf die Schweiz zu konzentrieren statt auf die Welt, sagte der Aussenminister nach seiner Wahl zum Bundespräsidenten.
Auf den ersten Blick mag das erstaunen. Auf den zweiten Blick weniger. Denn als Aussenminister hat Cassis bisher nicht brilliert. Der Rahmenvertrag mit der EU ist versenkt, ein Plan B nicht in Sicht. Natürlich kann man das nicht dem Aussenminister alleine anlasten, aber mindestens eine Vision dürfte man erwarten.
Nicht nur bei der Bevölkerung hat er gemäss Umfragen einen schweren Stand, sondern auch im Parlament. Das zeigte sich heute Mittag. Mit 156 Stimmen zum Bundespräsidenten gewählt: Das ist das viertschlechteste Resultat einer solchen Wahl seit der Jahrtausendwende.
Mit Aussenpolitik selten Lorbeeren
Nur Micheline Calmy-Rey erhielt noch deutlich weniger Stimmen – gerade einmal 106. Auch sie war Aussenministerin, vielleicht kein Zufall. Mit Aussenpolitik holt man sich in der Schweiz kaum Lorbeeren.
Darum kann man sich vorstellen, warum Cassis lieber daheim bleiben möchte als Bundespräsident. Hier erwarten ihn Themen, die ihm besser liegen und in denen er glaubwürdig wirken kann. Die Öffentlichkeit dürfte ihn als ehemaligen Kantonsarzt besonders ernst nehmen, wenn er sich zur Corona-Pandemie äussert – obwohl er als Bundespräsident wie seine Vorgänger lediglich die Meinung des Gesamtbundesrates vertreten darf.
Als Tessiner wirkt er auch besonders glaubwürdig, wenn er den Landeszusammenhalt beschwört und die Wichtigkeit der Vielfalt betont, so wie er es in seiner Präsidialrede tat – wortgewandt in allen vier Landessprachen. In dieser Rolle kann Cassis auch einen Trumpf ausspielen, der schon Guy Parmelin in seinem Präsidialjahr zugutekam: Beide wirken im direkten Kontakt angenehm bescheiden und sehr nahbar. So wie man es sich von einem Landesvater eben wünscht.
Kleinere Gefahr von Fettnäpfchen
Auch in Corona-Themen ist allerdings entscheidend, wie und wann ein Bundespräsident sich äussert. Als Aussenminister wurden Cassis solche Fettnäpfchen zum Verhängnis – als er zum Beispiel die bestehenden flankierenden Massnahmen früh öffentlich zur Diskussion stellte, statt zuerst hinter den Kulissen mit den Gewerkschaften das Terrain zu sondieren. Der Schaden war kaum mehr gutzumachen.
Vielleicht ist es darum klug, sich im Präsidialjahr aufs Inland zu konzentrieren. Als Gesundheitsexperte dürfte er die Corona-Fettnäpfchen eher orten können. Gelingt es ihm, ihnen auszuweichen, könnte er in seinem Jahr als Bundespräsident jenes Ansehen gewinnen, das ihm als Aussenminister bisher verwehrt blieb.