Turnusgemäss wählte die Vereinigte Bundesversammlung heute Ignazio Cassis zum neuen Bundespräsidenten. Vizepräsident wurde Alain Berset. Beide mit verhältnismässig schlechtem Resultat. Das wirft Fragen auf – die Cassis im Interview zu beantworten versucht.
SRF News: Sie schienen ziemlich bewegt heute Mittag, als Sie zum neuen Bundespräsidenten gewählt wurden. Täuscht der Eindruck?
Ignazio Cassis: Ich bin sicher sehr geehrt und mir ist die Wichtigkeit dieser Wahl für die italienischsprachige Schweiz bewusst. Nach einem knappen Vierteljahrhundert fühlen sie sich wieder vertreten im Präsidium des Landes, und das ist eine unglaubliche Ehre.
156 Stimmen, das ist nicht gerade ein gutes Resultat. Haben Sie schon eine Erklärung dafür?
Ich bin zufrieden mit dieser Wahl. Es ist für einen erstmaligen Präsidenten eine durchschnittliche Wahl.
In den letzten 20 Jahren gab es nur drei schlechtere Resultate.
Wie gesagt, ich bin zufrieden mit dieser Wahl. Und ich fühle mich geehrt, dass die Leute mir das Vertrauen geschenkt haben.
Mein erstes Ziel ist es, die Bundesratssitzungen gut zu führen. Das zweite Ziel ist es, den nationalen Zusammenhalt zu stärken.
Schon manchem Bundesrat hat das Präsidialjahr einen Schub verliehen in Sachen Profil und Popularität. Versuchen Sie Ihr Jahr auch so zu nutzen?
Das ist nicht mein Ziel. Mein erstes Ziel ist es, die Bundesratssitzungen gut zu führen. Das zweite Ziel ist es, den nationalen Zusammenhalt zu stärken und das dritte, in dieser schwierigen Situation die Meinungsunterschiede als Reichtum erleben zu lassen. Und nicht als Konfliktquelle.
Aber ein bisschen mehr Popularität könnten Sie wahrscheinlich schon gebrauchen. In zwei Jahren müssen Sie wiedergewählt werden. Es ist nicht einmal sicher, dass es dann zwei FDP-Sitze geben wird.
Mein Ziel ist nicht, populär zu sein, sondern gute Arbeit zu leisten. Natürlich: Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, man ist froh, wenn man der letzte einer Hitparade ist. Da ist man nicht froh. Aber es ist mir wichtiger, meiner Linie treu zu bleiben und meine Politik zu machen.
Sie werden nächstes Jahr mehr als heute Präsidentinnen und Präsidenten anderer Länder treffen. Wird das helfen, weiterzukommen im schwierigen Europadossier?
Es ist sicher so, dass der direkte Zugang zu Staats- und Regierungschefs ein Mehrwert ist. Dabei bleiben auch die Beziehungen zu den Aussenministern. Es ist nicht eine Seltenheit, dass Regierungschefs auch Aussenminister sind. Das kann sicher helfen, auch einen besseren Zugang zum Thema Europa zu haben.
Sie haben ein Jahr Zeit, diesen besseren Zugang zu nutzen. Ist das eine Art Schicksalsjahr, auch in der Europafrage?
Jedes Präsidium ist ein Schicksalsjahr. Jetzt insbesondere inmitten der Covid-19-Pandemie. Wir spüren, wie schwierig es ist, wie müde, wie irritiert die Menschen sind. Dieses Unbehagen. Das ist ein Schicksalsjahr. Für die Europafrage ist es ebenfalls ein Schicksalsjahr.
Mit meinem Background kann ich den Leuten erklären, warum der Bundesrat gewisse Entscheide trifft.
Sie werden als Bundespräsident wohl auch eine wichtigere Rolle spielen in Sachen Pandemie. Ist das der Moment für Ignazio Cassis, auch sein Expertentum als ehemaliger Kantonsarzt einzubringen?
Es ist sicher so, dass ich mit meinem Background den Leuten erklären kann, warum der Bundesrat gewisse Entscheide trifft. Und das werde ich natürlich in meinen Worten tun. Ich hoffe, dass das ein besseres Verständnis dafür schafft, welche Entscheide getroffen werden.
Manche Leute sind erstaunt, dass Sie sich bisher eher zurückgehalten haben in dieser Frage.
Gerade aus dem Grund, weil Sie gesagt haben «als Arzt». Ich möchte nicht als Arzt im Zusammenhang mit Aussagen des Gesundheitsministers in eine schwierige Situation kommen. Ich glaube, es ist wichtig, dass der Bundesrat mit einer Stimme spricht.
Das Gespräch führte Gion-Duri Vincenz.