Gesundheitsminister Alain Berset sagte kürzlich: «Wer sich nicht impft, nimmt eine Ansteckung mit den Konsequenzen, die damit verbunden sind, in Kauf und kann sich nicht mehr auf einen Schutz durch staatliche Massnahmen verlassen.» Das wirft Fragen auf, auch weil beispielsweise Impfstoffe in der Schweiz für Kinder unter 12 Jahren noch nicht zugelassen sind und es noch andere Gründe gibt, aus denen sich Menschen nicht impfen lassen können. Die Theologin Ruth Baumann-Hölzl sagt, wie sie dies aus ethischer Sicht sieht.
SRF News: Was sagen Sie zur Haltung «Quasi selber Schuld, wer sich nicht impfen lässt»?
Ruth Baumann-Hölzl: Wenn wir eine Krankheit als Schuld bezeichnen, ist das hochproblematisch. Im Rahmen der Humanität behandeln wir kranke Menschen grundsätzlich – unabhängig davon, ob sie an ihrer Erkrankung schuld sind oder nicht.
Der Bundesrat nehme in Kauf, dass das Virus zirkuliert, sagte Bundesrat Berset an der letzten Medienkonferenz. Es werde sich besonders unter Ungeimpften verbreiten. Zu diesen gehören auch Kinder unter 12 Jahren. Ist das ethisch vertretbar?
Die Grundfrage ist, inwiefern der Impfstoff auch für Kinder bereits verantwortlich zugelassen ist. Diesbezüglich fehlen die Daten. Wir wissen im Moment zu wenig darüber, wie sich der Impfstoff auf Kinder auswirkt. Wir müssen das Verhältnis zwischen dem Erkrankungsrisiko der Kinder und den Risiken einer Impfung herstellen.
Im Moment spricht mehr dafür, die Kinder unter 12 Jahren noch nicht zu impfen.
Es geht nicht darum, ob Kinder ungeschützt sind. Bis anhin erkrankten Kinder sehr selten mit starken Symptomen. Es gilt also abzuwägen, wie gross das Risiko einer noch nicht zugelassenen Impfung bei gesunden Kindern ist. Wenn man den Zustand der Kinder anschaut, muss man sagen: Im Moment spricht mehr dafür, die Kinder unter 12 Jahren noch nicht zu impfen.
Sie sehen es nicht so, dass die Kinder vergessen wurden?
Auf keinen Fall. Die Datenlage ist diesbezüglich eindeutig. Es kommt wie erwähnt selten zu Erkrankungen und die Erkrankungen verlaufen mild und führen nicht zu Todesfällen.
Ab dem 1. Oktober sollen Tests für asymptomatische Personen nicht mehr gratis sein. Ausnahmen gibt's für Kinder bis 12 Jahren und Personen, die sich nicht impfen lassen können. Reihentests in Schulen werden weiterhin vom Bund finanziert. Verstehen Sie diesen Entscheid des Bundesrates?
Diese Massnahme zeigt, dass Kinder getestet werden, dass der Bund am Schutz der Kinder interessiert ist und das auch fördert.
Würden Tests für Aktivitäten des alltäglichen Lebens wie einkaufen und so weiter verlangt, würde sich die Frage der Gerechtigkeit stellen.
Bezüglich der Kosten stellt sich die Grundfrage, für welche Zugänge solche Tests verlangt werden. Würden sie für Aktivitäten des alltäglichen Lebens wie einkaufen und so weiter verlangt, würde sich die Frage der Gerechtigkeit stellen. Die andere Frage ist, wie weit auch Menschen, die geimpft sind, noch Überträger sind und ob man an sie nicht die gleichen Anforderungen in Bezug auf einen Test stellen müsste wie an die anderen.
Kann man aus ethischer Sicht Ungeimpfte nun ihrer Selbstverantwortung überlassen?
Auch das ist eine Grundsatzfrage. Mündigen Staatsbürgern und Staatsbürgerinnen, die urteilsfähig sind, muten wir immer Selbstverantwortung zu. Das gehört zu einem aufgeklärten demokratischen Staat, wie wir einer sind. Menschen sollen Verantwortung für sich selbst übernehmen. Der Staat umgekehrt hat auch die Verantwortung, die Bürgerinnen und Bürger als mündige Menschen zu behandeln und sie entsprechend zu informieren. Er hat seine Abwägungen offenzulegen, wie er zu bestimmten Entscheidungen kommt. Nur so gewinnen wir das Vertrauen der Menschen.
Das Gespräch führte Hans Ineichen.