Es ist nicht lange her, dass die hohe Immunität der Schweizer Bevölkerung ein Grund zum Feiern war. Sie lieferte die Grundlage für den Entscheid, die Corona-Massnahmen beinahe komplett aufzuheben.
«97 Prozent aller Erwachsenen in der Schweiz haben Antikörper gegen das Coronavirus im Blut», sagt Tanja Stadler, Epidemiologin an der ETH Zürich. Die Antikörper gehen auf eine Impfung, Infektion oder beides zurück.
Sehr viele Leute sind infizierbar
Doch die Zahlen dieser Woche zeigen, dass Immunität keine schwarz-weiss-Angelegenheit ist. Sie variiert von Mensch zu Mensch, sie kann nachlassen – und sie kann durch neue Virusvarianten umgangen werden.
Deshalb sagt Stadler: «Es ist schwierig zu sagen, wie gut die 97 Prozent mit Antikörpern tatsächlich vor einer Infektion geschützt sind.» Die neue Variante BA.5 setzt sich durch, weil sie eine bestehende Immunität aushebelt.
Das bedeutet: Sehr viele Menschen, wenn nicht sogar alle, sind mit der neuen Variante wieder infizierbar. Die Frage ist, wie leicht sie infizierbar sind, wie viele schwere Verläufe dabei sein werden und wie viele Fälle von Long Covid auf die neuste Infektionswelle folgen. Dramatisch wird diese Welle nicht werden, doch genauer kann die Auswirkungen keiner abschätzen.
Neue Varianten umgehen Immunität
Gleichzeitig zeichnet sich ab, dass es das Virus noch relativ leicht hat, unsere Immunität mit Mutationen immer wieder neu zu umgehen.
Irgendwann sei es vielleicht so weit, dass es eine so breite Immunität gebe, dass das Virus kaum mehr Infektionen auslösen kann, sagt Epidemiologin Stadler. Doch so weit sei man noch nicht. Vorerst muss man mit weiteren Varianten rechnen, die das Immunsystem austricksen können.
Ein Testsystem wäre nützlich
Viele Labore in der Schweiz haben während der Pandemie auf Eigeninitiative Tests durchgeführt, und geschaut, wie gut Schweizer Genesene oder Geimpfte gegen Infektion mit der jeweils gerade dominierenden Variante geschützt sind. Das brachte immer wieder grundsätzlich wissenschaftlich neue Erkenntnisse.
Doch jetzt bringen solche Tests nichts wissenschaftlich Neues mehr. Sie wären aber immer noch nützlich, um die Lage epidemiologisch einzuschätzen. Solche Tests wären demnach mehr eine Aufgabe für eine Routine-Überwachung als für Forschungslabors.
Eine solche Überwachung aufzugleisen, wäre ausgesprochen sinnvoll, findet der Berner Virologe Volker Thiel.«Bei neuen Varianten könnte so die Frage relativ rasch beantwortet werden, ob die Immunität in der Schweizer Bevölkerung noch ausreichend ist.»
Die Finanzierung für die meisten Forschungsprojekte mit solchen Tests läuft nun nach zwei Jahren aus. Überlegungen für Anschlusslösungen sind noch nicht konkret.
Braucht es eine vierte Impfung?
Eine Schutzmassnahme wäre im Corona-Zusammenhang die vierte Impfung. Dabei geht es um die Frage, wann dafür der richtige Zeitpunkt ist, aber auch darum, ob ein angepasster Impfstoff nötig ist und wie eine solche Anpassung auszusehen hätte. «Diese Frage muss jedes Land einzeln beantworten, vor dem Hintergrund der jeweiligen Bevölkerungsimmunität», sagt Thiel.
Für Grippepandemien ist relativ klar, dass nach ein, zwei Jahren wieder Ruhe einkehrt, das hat man aus der Geschichte gelernt. Doch Corona ist kein Grippevirus, es verhält sich grundsätzlich anders. Ausserdem ist die aktuelle Pandemie sein erster, halbwegs gut untersuchter Auftritt. Vorhersagen bleiben deshalb schwierig.
Noch sei man nicht so weit, dass das Coronavirus bei uns ohne grössere Wellen zirkuliere, sagt Stadler. Insofern scheint es lohnend, gut im Auge behalten, was das Virus an Neuem mitbringt und was das jeweils für die Schweiz bedeutet.