Der 11. Mai war nicht nur der Tag, an dem Nemo den Eurovision Song Contest gewann – er war auch der Startschuss für eine politische Debatte: Braucht die Schweiz neben den Optionen «männlich» und «weiblich» einen dritten amtlichen Geschlechtseintrag? Noch nie wurde diese Frage so intensiv und konkret diskutiert. Auch im «Club» vom Dienstag: «Wenn ihr nur zwischen weiblich und männlich unterscheidet: Wo soll ich mich dann einordnen?», fragte Urs Vanessa Sager in die Runde.
Weder männlich noch weiblich
Sager wurde mit Geschlechtsmerkmalen geboren, die weder eindeutig männlich noch weiblich sind – wie zehntausende andere intergeschlechtliche Personen in der Schweiz. Genaue Zahlen gibt es nicht, weil sie nicht systematisch erfasst werden. Der Verein «InterAction», dem Sager vorsteht, geht von einem Anteil von ein bis zwei Prozent der Bevölkerung aus, was rund 90'000 bis 180'000 Personen entspricht. Das UNO-Hochkommissariat für Menschenrechte spricht von 0.05 bis 1.7 Prozent.
Was würde ein dritter Geschlechtseintrag für diese Menschen verändern? Eine zusätzliche Kategorie ausschliesslich für intergeschlechtliche Personen lehnt «InterAction» klar ab: «Das würde für uns ein Zwangsouting bedeuten.» Intergeschlechtliche Personen wären auf ID oder Pass sofort als solche erkennbar, ob sie es möchten oder nicht. Doch die Variante, die seit Nemos ESC-Sieg diskutiert wird – also eine dritte Option neben «männlich» und «weiblich», die sowohl intergeschlechtlichen wie non-binären Menschen zur Verfügung stehen würde –, würde Sager klar begrüssen.
Von Schulkameraden unterstützt
Urs Vanessa Sager kam 1955 zur Welt und wurde nach der Geburt dem männlichen Geschlecht zugeordnet. Die Intergeschlechtlichkeit wurde einige Jahre später bei einer medizinischen Untersuchung festgestellt und in der Pubertät durch die Brustentwicklung auch äusserlich sichtbar. Sager entschied sich zu einem mutigen Schritt: «Ich stellte mich vor meine Schulklasse, die ausschliesslich aus Jungen bestand, und erklärte ihnen, was mit mir passiert.» Die befürchteten negativen Reaktionen blieben aus. «Im Gegenteil, alle sagten: ‹Wenn es irgendein Problem gibt, kommst du zu uns. Wir sind da›.»
Nicht alle würden so viel Verständnis erfahren, sagt Sager. Entsprechend hoch ist der Leidensdruck. Zahlreiche Studien belegen, dass intergeschlechtliche Personen überdurchschnittlich häufig unter schweren Depressionen leiden. Gemäss einer Befragung der US-NGO «The Trevor Project» (2021) dachten 48 Prozent der intergeschlechtlichen Jugendlichen im vorangehenden Jahr ernsthaft über einen Suizidversuch nach.
Operationen ohne Einwilligung
Besonders hoch sei diese Rate unter Menschen, die ohne Einwilligung im Kindesalter operiert würden, um einem Geschlecht zugeordnet zu werden, betont Urs Vanessa Sager – eine Praxis, gegen die «InterAction» seit Jahren kämpft und die auch im Parlament diskutiert wurde. Mit einem dritten Geschlechtseintrag wären also bei Weitem nicht alle Probleme gelöst, so Sager – «doch es wäre ein Schritt in Richtung mehr Respekt und Anerkennung».