Für den Besuch im Restaurant, im Kino oder Theater muss man möglicherweise bald das Covid-Zertifikat vorweisen, also belegen, dass man geimpft, getestet oder genesen ist. Diese Ausweitung der Zertifikatspflicht stellt der Bundesrat zur Diskussion – und das zu einem sensiblen Zeitpunkt. Am 28. November stimmt die Schweizer Stimmbevölkerung über das Covid-Gesetz ab, über die gesetzliche Grundlage für das Covid-Zertifikat. Politologe Michael Hermann beschäftigt sich mit der Stimmung in der Bevölkerung seit der Pandemie. Der Druck wachse zwar damit, viele Stimmberechtigte seien allerdings schon geimpft.
SRF News: Der Bundesrat stellt eine Ausweitung der Zertifikatspflicht zur Debatte. Welches Risiko geht er im Hinblick auf die Abstimmung über das Covid-Gesetz damit ein?
Michael Hermann: Er geht ein Risiko ein, denn das ist ja der grosse Unterschied zu unseren europäischen Nachbarländern, dass wir hier auch darüber abstimmen. Der Punkt ist: Der Bundesrat war jetzt lange vorsichtig, vorsichtiger als andere Länder. Denn er hat genau auf diese Abstimmung spekuliert und war sich nach der Abstimmung vom Juni auch der Gefahren bewusst, als 40 Prozent gegen das Gesetz gestimmt haben – und auch nach der sehr erfolgreichen Unterschriftensammlung für das zweite Referendum. Aber mittlerweile gibt es eben auch ein anderes Risiko, das der Bundesrat auch miteinbeziehen muss, und das ist das Risiko eines starken Anstiegs der Hospitalisationen. Offenbar hat das jetzt zu einer neuen Auslegeordnung geführt.
Das heisst, es besteht die Gefahr, dass diese neuen möglichen Verschärfungen eine Gegenreaktion hervorrufen und das Gesetz im Herbst abgelehnt wird?
Ja, es gibt sicher eine Gegenreaktion. Es entsteht jetzt Druck auf die Gegnerschaft, vor allem auf die Impfgegnerschaft. Das hat aber nicht erst heute angefangen. Der Druck hat schon zugenommen, weil die Fallzahlen steigen, weil auch die Wirtschaft reagiert hat. Die Swiss zum Beispiel führt die Impfpflicht ein für das fliegende Personal. Aber die Frage ist, wie der Druck wirkt. Zunächst einmal wird es sicher zur Folge haben, dass die Impfquote steigt. Wir haben untersucht, was die Gründe sind für die, die noch nicht geimpft sind, sich impfen zu lassen. Ganz wichtig sind da pragmatische Gründe und nicht solidarische. Das heisst: Es ist viel praktischer, geimpft zu sein als nicht.
Der Abstimmungstermin ist im November. Welches Resultat ist wahrscheinlich?
Vor einer Weile war ich noch eher unsicher, ob das Gesetz eine Mehrheit gewinnen wird. Wenn wir diese Unterschriftensammlung für das Referendum gesehen haben und die 40 Prozent Nein an der Urne im Juni: Die allgemeine Stimmung war eher so, dass man genug hat von solchen Massnahmen. Aber die Rechnung ist mittlerweile schon eine andere.
Wir haben untersucht, was die Gründe sind für die, die noch nicht geimpft sind, sich impfen zu lassen. Ganz wichtig sind da pragmatische Gründe.
Und wenn die Abwägung ist «Lockdown oder Zertifikat», ist das Zertifikat die mildere Massnahme. Zudem ein ganz wichtiger Faktor bei der Abstimmung: Bereits heute ist eine deutliche Mehrheit derer, die stimmberechtigt sind, geimpft. Eine Mehrheit sieht die Zertifikatspflicht also nicht als zu grosse Einschränkung. Deshalb gehe ich heute davon aus, dass das Covid-Gesetz trotz allem gute Chancen hat, durchzukommen. Aber eine echte Prognose ist zum jetzigen Zeitpunkt unseriös.
Das Gespräch führte Raphael Günther.