Am Samstag gewann das Bieler Gesangswunder Nemo mit einer elektrisierenden Performance den Eurovision Song Contest (ESC) – und die Herzen von Lissabon bis Baku. Alles Nemo oder was? Nicht ganz: Ausgerechnet in seinem Heimatkanton rumort es. Denn von höchster Stelle gab es eine Generalkritik am ESC.
Darüber, dass der Gesangswettbewerb nach Nemos Sieg im kommenden Jahr in der Schweiz ausgetragen wird, konnte sich der Berner Regierungspräsident nämlich nicht freuen: «ESC – bleib fern von Bern», schrieb Philippe Müller auf X. Die Veranstaltung bezeichnete er als «korrupt» und in diesem Jahr «antisemitisch geprägt»:
Mit seinen Äusserungen zog Müller harsche Kritik auf sich. Von offizieller Seite hiess es, der Berner Sicherheitsdirektor habe lediglich seiner persönlichen Meinung Ausdruck verliehen.
Allerdings: Ob sich Bern für die Austragung des ESC 2025 bewirbt, kann Müller nicht alleine entscheiden. Das ist Sache des Gesamtregierungsrats. Dieser befasste sich an seiner Sitzung vom Mittwoch mit dem ESC.
Gesamtgremium signalisiert Offenheit
Ergebnis der Beratungen: Der Regierungsrat richtete ein Gratulationsschreiben an Nemo. «Mit Ihrem eindrücklichen Auftritt haben Sie alle Facetten Ihres vielseitigen Talents zum Ausdruck gebracht. Zugleich haben Sie vor einem weltweiten Millionen-Publikum ein starkes Zeichen für eine diverse, offene Gesellschaft gesetzt», heisst es darin.
Was eine allfällige Durchführung des ESC im Kanton Bern angeht, habe es einen ersten informellen Austausch gegeben, sagt Mediensprecher Reto Wüthrich. «Dabei hat der Regierungsrat festgestellt, dass im Kanton Bern mehrere Kongress- und Messestandorte über eine attraktive Infrastruktur verfügen.» Bewerbungen stehe der Regierungsrat offen gegenüber und sei bereit, entsprechende Gesuche um Unterstützung zu prüfen.
Hat Müller das Kollegialitätsprinzip verletzt?
So weit, so harmonisch. Doch im Berner Regierungsrat herrschte Klärungsbedarf nach Müllers ESC-Schelte. So habe sich der Regierungsrat an der Sitzung auch über den Social-Media-Post seines Präsidenten ausgetauscht, bestätigt Wüthrich. «Die Regierungssitzungen sind von Gesetzeswegen geheim. Deswegen kann ich zu den Inhalten der Diskussion nichts Näheres sagen.»
Aber hat der Berner Sicherheitsdirektor damit das Kollegialitätsprinzip verletzt, ist er also den anderen Regierungsmitgliedern in den Rücken gefallen?
Müller hätte klarer zum Ausdruck bringen können, dass es sich um seine persönliche Meinung handelt und nicht um die offizielle Meinung der Regierung – und damit des gesamten Kantons Bern.
Laut dem Politologen Sean Müller von der Universität Lausanne können kantonale Regierungen selbst darüber entscheiden, wie sich die Mitglieder zu verhalten haben. «Im Kanton Bern gilt die Regel: Solange es keine offizielle Kollegialmeinung gibt, kann sich jeder oder jede so äussern, wie er oder sie es will.»
Da Philippe Müller Regierungspräsident ist, könne man aber andere Massstäbe anlegen, so der Politologe. Die Äusserung könne man insofern als «voreiliges Brechen» der Kollegialmeinung interpretieren. Schliesslich hat das Gremium seine Offenheit für einen «Berner ESC» nun signalisiert.
Das Problem an Müllers Kritik sieht der Politologe darin, dass deren Absender unklar ist: «Er hätte klarer zum Ausdruck bringen können, dass es sich um seine persönliche Meinung handelt und um die offizielle Meinung der Regierung – und damit des gesamten Kantons Bern.»