Ab morgen Samstag gilt für Menschen, die aus der Ukraine in die Schweiz flüchten, der sogenannte Schutzstatus S. Das heisst: Sie werden unkompliziert aufgenommen für die Dauer des Krieges. Und sie dürfen auch hier arbeiten. Das hat der Bundesrat beschlossen.
Die Schweiz müsse sich darauf vorbereiten, dass sehr viele Menschen zu uns kommen, sagt Bundesrätin Karin Keller-Sutter im Interview.
SRF News: Das UNHCR schätzt, dass bis zu 15 Millionen Menschen aus der Ukraine flüchten könnten. Was kommt da auf die Schweiz zu?
Karin Keller-Sutter: Wir können es nicht mit Gewissheit sagen, aber wenn man das umrechnet, sind das mehrere zehntausend Personen, die auch in die Schweiz kommen könnten. Im Moment sind eineinhalb Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer nach Polen geflüchtet, vor allem die umliegenden Staaten müssen jetzt diese Aufnahmen gewährleisten. Aber es kommen nun auch in der Schweiz laufend Menschen an, die bei uns Schutz suchen.
Wo sehen Sie die grösste Herausforderung?
Wir wenden jetzt den Schutzstatus S zum ersten Mal an. Niemand hat Erfahrung damit. Das jetzt gut, korrekt und pragmatisch zu machen, ist eine grosse Herausforderung. Wir sind sehr viele Akteure: Bund, Kantone, Gemeinden, die Hilfswerke, Private. Es wird am Anfang sicher noch die eine oder andere Unebenheit geben, bis das System wirklich läuft. Aber wir sind uns einig: Man sollte jetzt nicht das Haar in der Suppe suchen. Unsere Aufgabe ist es, jetzt schnell Schutz zu gewähren.
Der Bundesrat hat heute beschlossen, dass Geflüchtete bereits ab morgen arbeiten könnten. Wie sinnvoll ist das, wenn man sieht, dass 70 Prozent von ihnen Frauen sind, viele mit Kindern?
Es ist einfach unbürokratischer. Wenn wir eine Wartefrist von einem Monat festgelegt hätten, hätte man diese Wartefrist überprüfen müssen. Das ist jetzt nicht nötig. Man wollte sich einerseits der Einfachheit halber an die EU-Regelung anpassen, und andererseits denen Arbeit ermöglichen, die arbeiten können und wollen. Es muss ja niemand.
Die Geflüchteten sollen sofort arbeiten können – aber Anspruch auf einen Sprachkurs haben sie nicht. Wie sollen sie so einen Job finden können?
Ja, diesen Anspruch haben sie nicht. Aber die Kantone, die ja für die Integration zuständig sind, haben kantonale Integrationsprogramme, die sie öffnen können. Es geht ja vor allem um den Spracherwerb. Und der Bund ist gesprächsbereit für eine allfällige Mitfinanzierung. Aber das ist nicht die erste Sorge. Die erste Sorge ist, dass wir die Menschen unterbringen können.
Arbeit haben Sie auch sofort ermöglicht, obwohl das auch kaum die erste Sorge ist. Dauert es beim Sprachkurs länger, weil es darum geht, wer bezahlt?
Nein. Nochmals: Wir müssen uns darauf einstellen, dass mehrere hundert bis tausend Personen ankommen können. Täglich. Man muss sie registrieren, man muss sie verteilen, man muss sie zuweisen. Und wir müssen unsere Ressourcen jetzt darauf verwenden.
Private bieten die Rekordzahl von 40'000 Betten an. Wie gross ist die Gefahr, dass aus dieser grossen Solidarität grosse Enttäuschung wird auf beiden Seiten, wenn man nach ein paar Wochen vielleicht merkt: So einfach ist das Zusammenleben doch nicht?
Das ist sicher anspruchsvoll. Aber die Schweizerische Flüchtlingshilfe überprüft die Anbieter und Unterkünfte. Dieser Punkt ist allerdings schon wesentlich: Wir haben jetzt eine grosse Solidaritätswelle. Wir sehen auch täglich die Bilder in den Nachrichten von diesem Krieg, von den Frauen und Kindern.
Aber bleibt die Solidarität auch, wenn das dauert, wenn diese russische Aggression weitergeht? Wir müssen uns unter Umständen auf sehr viele Geflüchtete einstellen. Und wir müssen uns auch darauf einstellen, dass die Solidarität tatsächlich auch anhält. Das ist eine Herausforderung.
Wie stellen Sie sicher, dass bei diesen privaten Angeboten nicht auch zwielichtige Angebote darunter sind, Stichwort Frauenhandel oder Prostitution?
Diese Frage ist berechtigt. Aber hier haben wir eben die Flüchtlingshilfe, die diese Angebote prüft und schaut, wo die Menschen untergebracht werden. Ich denke auch, in kleineren Kantonen ist das einfacher, weil man sich dort kennt, auch die Sozialbehörden kennen vielleicht die Familien oder die Anbieter. Die Herausforderung wird in den grossen Kantonen wahrscheinlich ungleich grösser sein.
Im Syrienkrieg sagte die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel: «Wir schaffen das» und musste sich daran messen lassen. Von Ihnen habe ich bei Kriegsausbruch den Satz gehört «Wir lassen diese Menschen nicht im Stich.» Werden Sie sich darauf behaften lassen, auch wenn der politische Wind eines Tages drehen sollte?
Ja, das habe ich schon angetönt. Wir müssen darauf hinarbeiten, dass diese Solidarität bleibt. Das Ausmass, das hier erreicht ist, sucht seinesgleichen. In zwei Wochen sind zwei Millionen Menschen geflüchtet. Das hat es in dieser Geschwindigkeit noch nie gegeben, das ist die grösste Fluchtbewegung seit dem Zweiten Weltkrieg! Das wird uns in vielerlei Hinsicht prägen. Es wird uns wohl wirtschaftlich, sozial und migrationspolitisch weiterverfolgen. Die Welt hat sich verändert mit diesem Angriff.
Das Gespräch führte Nathalie Christen.