Im Tessin schlagen Hilfsorganisationen wie die Winterhilfe und der Verein «Tischlein deck dich» Alarm. Sie sagen, die Armut der Tessiner Bevölkerung wachse. Darum verstärken sie ihre Hilfsangebote, wie zum Beispiel Nahrungsmittelabgaben.
Auch Kapuzinerbruder Martino, verantwortlich für die Stiftung Francesco, konstatiert, dass sich immer mehr Menschen an seiner sozialen Tafel verköstigen. Immer mehr Menschen im Tessin fehle das Geld, um ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen. Vielen falle es schwer, darüber zu sprechen: «Armut ist für viele Tessiner und Tessinerinnen eine Schande.»
Weniger als 2500 Franken pro Monat
In ihrer Not wendeten sich die Menschen vermehrt an Anlaufstellen wie die seine, wo man sich nicht ausweisen müsse, um eine warme Mahlzeit zu erhalten. Die Statistik zeigt: Im Tessin ist jede vierte Person armutsgefährdet. Das bedeutet, er oder sie muss mit weniger als 2500 Franken monatlich auskommen. In der Genferseeregion ist die Situation gleich. Im Rest der Schweiz hingegen ist nur jeder Siebte armutsgefährdet.
Der Ökonomieprofessor Christian Marazzi hat vor 30 Jahren die erste Tessiner Armutsstudie verfasst. Er sagt, in den letzten 30 Jahren habe sich vor allem die Art und Weise, wie wir die Armut in der Schweiz wahrnehmen, verändert; dass wir überhaupt über sie sprechen. Man warf ihm früher vor, die Armut zu erfinden. Damals wie heute sind es vor allem Frauen, die von Armut betroffen sind. Und anders als damals gibt es heute das Phänomen der Working Poor.
Ein weiterer Unterschied zu früher sei die starke Zunahme von Temporärarbeitern, die Hand in Hand geht mit der Zunahme der Grenzgänger und Grenzgängerinnen. Diese Entwicklung fördere den Lohndruck. Die Rede vom Lohndumping, vom «dumping salariale», ist ein Dauerbrenner im Tessin. Entsprechend präsent in der Wahrnehmung ist das Risiko, in die Armut abzurutschen.
Ein Versagen der Politik?
Früher sprach man in sozialen Kreisen, in Kirchen oder innerhalb der politischen Linken über Armut. Durch die Rechtsbewegung Lega dei Ticinesi wurde das Thema auch im rechten Lager präsent: Die Lega hat die Wahrnehmung sehr früh auf das Armutsrisiko gerichtet. «Alle Parteien sprechen heute über Armut.»
Da das Armutsrisiko tendenziell aber nicht abnehme, müsse sich die Politik unweigerlich ein gewisses Versagen vorwerfen lassen, sagt Marazzi. Klar ist in seinen Augen: Das Armutsrisiko sinke nur, wenn in Politik und Gesellschaft grundsätzliche Veränderungen erfolgen.
Die Arbeit müsse besser verteilt und der Konsum überdacht werden. Ebenso die Gewinnmaximierung. Der 72-jährige Tessiner Ökonom, der international publiziert, hofft auf diese Umkehr. Nicht für sich, wie er sagt, sondern für die Jugend.