70 Prozent der Frauen, die in der Schweiz getötet werden, werden Opfer ihres aktuellen oder früheren Partners oder ihres Vaters. Dies zeigt die Schweizer Kriminalstatistik von diesem Sommer. Bei jüngeren Frauen, die von ihren Männern getötet werden, geschehe das Delikt oft in Trennungssituationen, sagt die Kriminologin Nora Markwalder, Assistenzprofessorin an der Universität St. Gallen. Auch gebe es in diesen Fällen oft eine Vorgeschichte von häuslicher Gewalt, weswegen sich die Frau vom Mann trennt.
Die Kriminalstatistik
Bei älteren Opfern ist die Sachlage etwas anders, wie das Westschweizer Radio und Fernsehen RTS festgestellt hat. Anlässlich zweier Morde an Frauen über 70 Jahre in diesem Sommer hat RTS genauer nachgeschaut. Basierend auf den Zahlen der Statistiken der letzten zehn Jahre sind 20.1 Prozent der Opfer eines häuslichen tödlichen Gewaltdelikts Seniorinnen über 70 Jahre. Sie repräsentieren aber nur 16 Prozent der Frauen in der Schweiz. Das heisst, sie werden durchschnittlich häufiger Opfer eines Femizids als jüngere Frauen.
Mord aus «Mitleid»
Bei Femiziden an Frauen über 70 Jahre litten die Opfer oft an einer Erkrankung, sei es an Demenz oder an einem psychischen Leiden, sagt die Fachfrau. «Es sind vielfach Konstellationen, in denen das Opfer ein Gebrechen hat und aus Mitleid oder Überforderung von seinem Mann getötet wird. In einem Drittel dieser Fälle begeht der Täter anschliessend Suizid.» Genau deshalb werden diese Fälle oft nicht bekannt. Da gegen Tote nicht ermittelt werden kann, werden die Ermittlungen jeweils eingestellt, es kann niemand mehr zur Rechenschaft gezogen werden. Es gibt dann kein Gerichtsverfahren mit einem öffentlichen Urteil.
Dass Fälle von jüngeren Femiziden häufiger öffentlich thematisiert werden, liege zusätzlich auch daran, dass, je jünger ein Opfer ist, umso mehr Lebenszeit betroffen ist, analysiert Cornelia Hummel, assoziierte Soziologieprofessorin der Universität Genf. Je jünger ein Opfer, desto mehr interessiere sich die Öffentlichkeit dafür.
Es gebe auch die Fälle, in denen ältere Frauen von ihren Söhnen getötet werden. Das ist bei jüngeren Frauen, die noch jüngere Söhne haben, seltener. Wenn Söhne ihre Mutter umbringen, liegen oft langjährige Streitigkeiten oder Erbstreitigkeiten vor. In einem Fünftel der Fälle sind es andere Familienmitglieder, die eine Seniorin über 70 Jahre töten, wie die Kriminalstatistik belegt.
Manche Frauen werden nicht erreicht
Es gibt zwar diverse Möglichkeiten auch für Seniorinnen, sich bei häuslicher Gewalt Hilfe zu holen, sei es bei Anlaufstellen, in Arztpraxen oder bei der Polizei. Es könne aber für Betroffene schwierig sein, sich an jemanden zu wenden, sagt Markwalder. «Das ist oft der familiären Situation geschuldet, gerade wenn es sich um kranke oder bettlägerige Frauen handelt.» Den Präventionsansatz sehe sie aber so oder so bei der Täterschaft, so die Expertin. Es bräuchte wohl ein besseres Auffangnetz für Männer mit psychischen Problemen, die von der Pflege ihrer Frau überfordert seien.