Seit heute Morgen ist der Gotthardtunnel gesperrt, da sich Betonteile von der Decke gelöst haben. Nach der Entgleisung eines Zuges im Gotthard-Basistunnel sind nun alle «schnellen Wege» ins Tessin unterbrochen. Der ehemalige Tessinkorrespondent Alexander Grass ordnet die Geschehnisse und deren Bedeutung für den italienischsprachigen Kanton ein.
SRF: Was heisst das fürs Tessin, wenn jetzt alle «schnellen Wege» zu sind?
Alexander Grass: Die Verbindungen zwischen der Deutschschweiz und dem Tessin werden dadurch noch stärker herausgefordert. Tatsache ist, dass das Tessin bei vielen nationalen Abstimmungen anders als die schweizerische Mehrheit stimmt. Insbesondere, wenn es um Ausländerfragen, Beziehungen zur EU oder zur Internationalisierung geht. Das Tessin fühlt sich deswegen oft unverstanden von Bundesbern. Das Tessin sieht sich immer wieder in die Position einer Minderheit versetzt, die von einer Mehrheit überstimmt wird. Man fühlt sich unverstanden, beispielsweise bezüglich grosser Probleme mit den Tieflöhnen oder Grenzgängern. Und aus der Deutschschweiz kommen dann einfach in den entsprechenden Volksabstimmungen ganz andere Voten und ganz andere Mehrheiten zustande.
Ja, der Gotthard steht im Weg. Die Landesteile der Schweiz driften auseinander.
Aber zugleich muss man sagen, dass in der Schweiz auch andere Gräben in der politischen Landschaft existieren, wie beispielsweise ein Stadt-Land-Graben oder ein Graben zwischen Männern und Frauen. Das haben wir gesehen bei der AHV-Abstimmung. Und das Tessin ist nur eine von den vielen Minderheiten, die immer wieder von sich sagen können ‘Wir werden in die Minderheit versetzt, wir werden überstimmt’.
Resultiert dieses Unverständnis aus der Nähe zu Italien? Oder steht vielleicht doch der Gotthard im Weg?
Ja, der Gotthard steht im Weg. Die Landesteile der Schweiz driften auseinander. Man hatte während vieler Jahrzehnte eine Konkordanzpolitik. Lange Zeit galt der Grundsatz, dass die einzelnen Landesteile und auch die Sprachminderheiten berücksichtigt werden müssen. Aus einem Miteinander ist eine Konkurrenz geworden, eine Konkurrenz der Landesgegenden. Und in dieser Konkurrenz haben solche Rücksichtnahmen keinen Platz mehr. Das zeigt sich auch im Tessin. Die italienischsprachige Schweiz ist viel kleiner als beispielsweise die Romandie. Doch auch in der französischsprachigen Schweiz ist ein ähnlicher Tenor beobachtbar. Kommentare in den Medien zeigen, dass man sich von der Deutschschweiz, von der grossen Mehrheit, übergangen fühlt.
Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?
Zum Beispiel bei Wirtschaftsfragen, Standortvorteilen, der Bergförderung und selbstverständlich bei der Transportpolitik. Die Neat-Strecke im Tessin endet eigentlich bei Lugano. Die Züge rollen dann weiter auf einer über 100 Jahre alten Strecke. Ursprünglich war geplant, dass man diesen Ausbau bis Chiasso machen soll. Dort soll dann der Verkehr in Italien abgenommen werden. Das Tessiner Parlament hat dazu einen einstimmigen Beschluss gefasst und von Bern gefordert, dass die Realisierung schneller vorangetrieben werden soll. Denn der Verkehr wächst ständig. Und doch stellte man im Tessin fest, dass in Bundesbern eben die Prioritäten anders gesetzt werden. Denn der Ausbau des Nord-Süd-Korridors südlich von Lugano, südlich von Bellinzona, kommt nicht voran. Wir haben bei Bellinzona das Problem, dass die vielen Güterzüge mitten durch die Stadt rollen. Ursprünglich war ein Umfahrungstunnel geplant. Aber wir werden sehen, wie es weitergeht.
Das Gespräch führte Raphael Günther.