Mahbube hat ihr schwarzes, langes Haar sorgfältig zu einem Zopf gebunden, trägt einen modischen Pullover, helle Hosen und hat lange rot gefärbte Fingernägel, an einzelnen sind kleine Blumenmuster aufgemalt. Sie spricht fliessend Schweizerdeutsch mit einem leichten Akzent.
Man kann es kaum glauben, dass die heute 19-Jährige erst vor zwei Jahren von Teheran über Griechenland in die Schweiz geflüchtet ist. Es war schon die zweite Flucht der Familie: Jahre zuvor war sie von Afghanistan nach Iran geflüchtet.
Mittlerweile besucht Mahbube in Zürich das Gymnasium. Der Gedanke, dass einer gleichaltrigen jungen Frau in Afghanistan der Besuch einer Mittelschule verwehrt ist, sei für sie unerträglich gewesen. Deshalb beschloss sie letzten Herbst, zusammen mit einer Freundin, einen Online-Fernkurs zu gründen.
Heute machen 90 Schülerinnen mit
Der Name «Wild-Flower» stehe symbolisch für den Mut und die Kraft der Mädchen und jungen Frauen in Afghanistan. Eine Wildblume kämpfe sich allen Widerständen zum Trotz durch den Asphalt, gedeihe und komme zum Blühen. So sei das auch für die afghanischen Frauen, welche sich trotz Verbot weiterbilden würden.
Letzten Oktober haben die zwei Freundinnen den Online-Fernunterricht ins Leben gerufen. Drei Schülerinnen in Afghanistan machten zu Beginn mit. Mittlerweile sind es 90 Mädchen und Frauen im Alter zwischen 11 und 40 Jahren. 52 Freiwillige helfen mit. «Die afghanischen Frauen sind wissbegierig. Sie wollen lernen», sagt Mahbube. Das Ziel seien vorerst 200 Schülerinnen. Finanziert wird «Wild-Flower» durch Spenden und Benefizveranstaltungen. Das System funktioniert erstaunlich einfach: Das einzige, was die afghanischen Mädchen und Frauen für den Online-Unterricht brauchen, ist ein Smartphone. Bezahlt wird der Internetzugang aus der Schweiz.
Lena Brunner macht diese Zahlungen monatlich. Die 16-Jährige ist ebenfalls Gymnasiastin und gibt nebenbei Onlinekurse bei «Wild-Flower». Gegenwärtig seien es nur etwa zwei Stunden wöchentlich.
Sie habe derzeit eine 26-jährige Afghanin als Schülerin, diese sei sehr motiviert und wolle vor allem ihr Englisch aufbessern.
Der Online-Unterricht wird als Privatgespräch getarnt
Seit der Machtübernahme der Taliban 2021 haben Frauen in Afghanistan kaum noch Rechte. Mädchen ab der siebten Klasse dürfen nicht mehr zur Schule zu gehen. Auch solche Fernkurse für Frauen sind in Afghanistan nicht erlaubt. Trotzdem sei die Gefahr klein, dass die Behörden die Frauen beim Lernen in flagranti erwischen würden, sagt Samira Nohami-Graf. Sie ist Mitgründerin von «Wild-Flower». Man achte darauf, dass man gleichzeitig maximal vier Schülerinnen in einem Chat gemeinsam unterrichte. So könne dies im Fall einer Behördenkontrolle als Privatgespräch bezeichnet werden: Vier Freundinnen, die miteinander plaudern würden.
Die afghanischen Frauen sind wissbegierig. Sie wollen lernen.
Zudem sei die Überwachung in Afghanistan technisch nicht so ausgeklügelt wie beispielsweise in China. Auch bei der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFH) schätzt man die Gefahr als eher gering ein, gerade weil die Frauen nur einzeln oder in kleinen Gruppen unterrichtet werden.
Das Taliban-Regime überwache jedoch vermehrt soziale Medien und auch Internetverbindungen. Kontrollen von Online-Mädchenschulen könnten deshalb keinesfalls ausgeschlossen werden. Im Falle einer Kontrolle müssten die Schülerinnen mit harten Strafen rechnen. Die Schweizerische Flüchtlingshilfe bezieht sich auf das US-amerikanische Aussenministerium, wonach die Taliban den Kampf gegen Social-Media-Aktivisten verstärkt haben.
Zudem schränkt das Regime immer wieder den Zugang zum Internet ein – es kommt teilweise zur Verlangsamung oder zu lokalen Sperrungen. Das spüre man hin und wieder, sagt Lena, komme aber selten vor.
Aufklärung über Frauenrechte inklusive
Allerdings müssen viele Schülerinnen den Onlinekurs nicht nur vor den Behörden verheimlichen, sondern auch vor der eigenen Familie. Mahbube nennt als Beispiel eine 22-jährige Schülerin. Diese könne auch zuhause nur heimlich am Fernunterricht teilnehmen, nämlich dann, wenn ihr Mann nicht da sei. Dieser akzeptiere es nicht, dass seine Frau sich weiterbilden wolle.
‹Wild-Flower› ist wie ein Fenster zur Welt.
Viele der 90 Schülerinnen leben in der Hauptstadt Kabul, es gibt aber auch Teilnehmerinnen vom Land. Unterrichtet werden Sprachen wie Englisch, Französisch und Deutsch, aber auch Mathematik und Informatik. Und man spreche auch über Menschen- und insbesondere Frauenrechte, sagt Mahbube.
Die Frauen wüssten mehrheitlich nicht, welche Rechte sie ausserhalb Afghanistans hätten. Zum Beispiel, dass man nicht zum Heiraten gezwungen werden könne. Das mache sie traurig, sagt Mahbube, deshalb sei es auch Aufgabe von «Wild-Flower», die Frauen über ihre Rechte in einer freien Welt aufzuklären. «‹Wild-Flower› ist wie ein Fenster zur Welt», sagt die 19-Jährige.
Neues Projekt für afghanische Männer
Enttäuscht ist Mahbube in der Schweiz vor allem von männlichen afghanischen Flüchtlingen. Diese hätten sie in der Aufnahmestation in Basel massiv beleidigt. «Sie drohten, mich umzubringen, weil ich kein Kopftuch trage.»
Sie könne nicht verstehen, wie man vor Unrecht in die Freiheit fliehen könne, aber dann trotzdem Frauen unterdrücken wolle. Diese Tatsache hat Mahbube angespornt, ein neues Projekt zu entwickeln. Sie will zusammen mit anderen afghanischen Frauen in Asylzentren bei afghanischen Männern Aufklärung betreiben.
In der Schweiz sollen afghanische Flüchtlinge nicht nur Schutz erhalten, sondern auch so leben dürfen wie sie wollen, und zwar Männer und Frauen. Deshalb wolle sie hier dafür kämpfen, dass die Männer Regeln und Gesetze in der freien Schweiz befolgen und auch leben. Mahbube will nicht nur in Afghanistan helfen, sondern auch hier in der muslimischen und afghanischen Diaspora für Frauenrechte kämpfen.