Am Donnerstagmorgen wurde Olha Martynyuk in ihrer Wohnung in Kiew jäh aus dem Schlaf gerissen. «Ich hörte eine Explosion und dachte zuerst, es handle sich um einen Gas-Unfall. Das ganze Haus hat gezittert.» Als sie in der Dunkelheit aus dem Fenster blickte, sah sie jedoch in der Ferne ein oranges Leuchten und hörte weitere Explosionen. Da wusste sie: Die Lage ist ernst. «Es war schrecklich», erinnert sich Martynyuk . Später hörte sie in den Nachrichten, dass die Ukraine angegriffen wird.
Ich hörte eine Explosion und dachte zuerst, es handle sich um einen Gas-Unfall.
Nach einem kurzen Aufenthalt in einer Metro-Station, die als Schutzraum diente, entschied sie sich die 36-Jährige, zu ihrer Mutter zu fahren. Diese lebt in Lwiw, einer Stadt, rund 70 Kilometer von der polnischen Grenze entfernt.
Das Gepäck für die Reise hatte sie schon parat, weil sie sich schon vor ein paar Tagen entschieden hatte, zu ihren Freunden in die Schweiz zu fahren – vor dem überraschenden Angriff der Russen. Im Zug fasste Martynyuk dann einen weiteren einschneidenden Entscheid: Sie stieg nicht in Lwiw aus, sondern fuhr im gleichen Zug weiter an die polnische Grenze, wo sie 14 Stunden später ankam.
Von dort aus ging ihre Reise weiter nach Basel, wo sie nun bei Freunden weilt. Hier angekommen plagen sie jedoch auch Gewissensbisse: Ob ihre Flucht die richtige Entscheidung war und sie nicht doch hätte zu ihrer Mutter nach Lwiw oder ihrem Vater, der in einem Vorort von Kiew wohnt, fahren sollen. «Ich mache mir grosse Sorgen um meine Eltern und kann seit meiner Ankunft in der Schweiz kaum mehr schlafen.»
Ich mache mir grosse Sorgen um meine Eltern und kann seit meiner Ankunft in der Schweiz kaum mehr schlafen.
Zu Leuten und Familienangehörigen in der Ukraine habe sie nach wie vor Kontakt. «Niemand fühlt sich sicher dort. Jede Minute kann eine Bombe einschlagen.» Ihr Vater habe sich unterdessen dem zivilen Widerstand angeschlossen. Auch sie hätte sich vorstellen können, für ihr Land zu kämpfen. «Ich schäme mich, dass ich keine Soldatin bin.» Zurück nach Kiew will Martynyuk indes erst wieder, wenn die Lage vor Ort sicher ist. Solange will sie bei ihren Freunden in Basel bleiben, die sie aus ihrer Zeit als Studentin kennt.
Ich bin froh, dass die Ukraine nicht alleine ist in diesem Krieg.
Nicht nur über die Unterstützung durch ihre Freunde freut sie sich, sondern auch über die Solidarität aus der ganzen Welt. «Ich bin froh, dass die Ukraine nicht alleine ist in diesem Krieg.» Nie im Leben hätte sie sich vorstellen können, dass sie sich über Waffenlieferungen freut, die derzeit aus verschiedenen Staaten in der Ukraine eintreffen.
Die Hoffnung auf Frieden ist bei Geschichts-Dozentin Olha Martynyuk trotz der vielen negativen Meldungen aus der Ukraine gross. «Vielleicht ist nun der Zeitpunkt gekommen für einen Umsturz in Russland und Belarus. Vielleicht folgt nun der erste Schritt, um die Diktatur in diesen Ländern zu beenden.»