Die Spitze des Europarats wird neu besetzt. Im Rennen sind der Schweizer Alt Bundesrat Alain Berset, der Belgier Didier Reynders und der Este Indrek Saar. Was spricht für den Einen, was für den Anderen und was für den Dritten? Fredy Gsteiger, diplomatischer Korrespondent von SRF, schätzt ein.
Ist das Herkunftsland entscheidend?
Offiziell nicht. Zwar wird jeder Kandidat für den Posten des Generalsekretärs formell von seiner Regierung vorgeschlagen. Doch letztlich gibt die Persönlichkeit den Ausschlag. Allerdings: Ein bisschen eine Rolle spielt die Herkunft trotzdem. Es gibt nämlich eine ungeschriebene Regel, welcher zufolge sich Generalsekretäre aus EU- und aus Nicht-EU-Ländern abwechseln. Da die jetzige Amtsinhaberin Marija Pejcinovic Buric aus Kroatien stammt, wäre jetzt also jemand aus einem Nicht-EU-Land an der Reihe. Doch verbindlich ist diese Regel nicht. Dennoch spricht dieses Kriterium für Berset. Denn Saar und Reynders repräsentieren EU-Mitglieder.
Wer verfügt über den eindrücklichsten Lebenslauf?
Alain Berset war, obschon erst 52-jährig, bereits Ständerat, Bundesrat und Bundespräsident. Der Este Indrek Saar, 51, war lediglich Kulturminister in seinem kleinen Heimatstaat und Abgeordneter im Europarat. Didier Reynders hatte in Belgien gewichtige Ministerposten (Äusseres, Verteidigung, Finanzen) inne und ist derzeit EU-Justizkommissar und gilt daher – genauso wie Berset – als politisches Schwergewicht. Allerdings wäre er bei seinem Amtsantritt im Herbst bereits 66-jährig. Und: Er kandidierte schon vor fünf Jahren als Generalsekretär des Europarats, scheiterte aber damals. Beim Kriterium Lebenslauf haben also Berset und Reynders die Nase vorn.
Welcher Typ Generalsekretär ist gefragt?
Der Europarat ist zwar in seinen Kerngeschäften Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte führend und besitzt dort mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) auch das zentrale und einflussreiche Justizorgan. Dennoch steht er häufig etwas im Schatten der mitgliedermässig kleineren, budgetmässig aber sehr viel potenteren und weitaus mächtigeren EU. Viele Abgeordnete in Strassburg möchten das ändern – und sie wählen den Generalsekretär. Man sucht diesmal also einen starken Chef, der dem Europarat mehr Sichtbarkeit verleiht, eine Vision hat, Durchsetzungskraft und idealerweise auch Charisma. Hier punkten eher Berset und Reynders als Saar. Allerdings gilt Reynders eher als politischer «Has Been» und weniger als «Mann der Zukunft».
Wie wichtig ist die Parteizugehörigkeit?
Es gibt bei der Wahl keinerlei Parteidisziplin. Jede und jeder votiert nach eigenem Gusto. Und die Stimmabgabe ist geheim. Dennoch könnten Berset und Saar, beides Sozialdemokraten, einander Stimmen wegnehmen, während der Liberale Reynders in seinem Lager keinen Gegner hat. Dazu kommt: Saars Kandidatur wurde von den Sozialdemokraten von langer Hand lanciert. Berset trat erst im letzten Moment an – weil er gar nicht früher konnte, da er bis Ende 2023 Bundespräsident war. Dennoch nehmen ihm einzelne Abgeordnete das «Reingrätschen» übel. Bei diesem Punkt dürften es also Saar und Reynders etwas einfacher haben.
Welche Rolle spielen persönliche Beziehungen?
Viele Abgeordnete in Strassburg kennen Saar persönlich, weil er jahrelang einer der ihren war. Freilich kritisieren manche: Besonders engagiert hat er sich im Europarat nicht. Berset führt seit mehreren Monaten einen intensiven Wahlkampf und holte damit, wie zu hören ist, Punkte. Dazu kommt: Berset kennt viele Staats- und Regierungschefs persönlich. Auch Reynders ist diesmal sehr aktiv, nachdem er bei seiner gescheiterten Kandidatur 2019 sehr früh viel zu siegessicher aufgetreten war, was ihm viele als Arroganz auslegten. Diesen Fehler begeht er diesmal nicht. Hingegen wird ihm angekreidet, dass er trotz seiner Kandidatur für den Spitzenposten beim Europarat nicht zurücktrat als EU-Kommissar, sondern bloss Wahlkampfferien nahm. Bei diesem Kriterium ist die Ausgangslage wohl unentschieden zwischen den drei Männern.
Spielen noch andere Überlegungen eine Rolle?
Sehr wohl. Bei Reynders taucht etwa die Frage auf: Will der Europarat einen EU-Kommissar «erben»? Und ist dessen hervorragende Vernetzung in Brüssel ein Vor- oder ein Nachteil? Berset könnten die jüngsten Beschlüsse im National- und im Ständerat in Bern schaden, das Klimaseniorinnen-Urteil des EGMR rundweg zu ignorieren. Das tun sie aber gemäss Europarats-Insidern nicht. Zumindest sagt es niemand offen. Für Saar wiederum könnten die guten Chancen der estnischen Regierungschefin Kaja Kallas, demnächst EU-Aussenbeauftragte zu werden, von Nachteil sein. Gleich zwei europäische Spitzenposten für ein so kleines Land halten manche für zu viel. Hingegen könnte Saar profitieren von der Sympathie in vielen Europaratsdelegationen für die Ukraine und die sich ebenfalls von Russland bedroht fühlenden baltischen Staaten. Wem all diese Überlegungen nützen, ist unklar.
Wer wird gewählt?
Selbst langjährige Beobachter des Europarats riskieren keine Prognosen. Die Parlamentarische Versammlung gilt als notorisch unberechenbar. Fast alle sind überzeugt, dass keiner der drei Kandidaten im ersten Wahlgang eine absolute Mehrheit erreicht. Beim zweiten Wahlgang am späteren Dienstag genügt dann das relative Mehr. Der Sieger tritt dann nach den Sommerferien sein Amt an.