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Krawalle in den Banlieues Frankreich-Kenner: «Man liess fünf Millionen Menschen allein»

Die Bilanz der Krawallnächte in den Vorstädten Frankreichs: Hunderte brennende Autos und Abfalltonnen, Angriff auf das Wohnhaus eines Bürgermeisters, Tausende Festnahmen. Die Frage stellt sich: Was sind die Gründe dafür? Frankreich-Kenner Reinhard Schulze ordnet ein.

Reinhard Schulze

Islamwissenschaftler

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Der Islamwissenschaftler Reinhard Schulze studierte von 1974 bis 1981 Orientalistik und Islamwissenschaft, Romanistik und Linguistik an der Universität Bonn. Von 1987 bis 1992 wirkte er als Professor für Orientalische Philologie an der Ruhr-Universität Bochum, zwischen 1992 und 1995 als Professor für Islamwissenschaft und Arabistik an der Universität Bamberg. Ab 1995 bis zu seiner Emeritierung 2018 war er ordentlicher Professor für Islamwissenschaft und Neuere Orientalische Philologie an der Universität Bern. Schulz’ wissenschaftlicher Schwerpunkt liegt auf der Erforschung des sozialen Wandels im Kontext der islamischen Welt.

SRF News: Weshalb gibt es solche Zustände in den Banlieues?

Reinhard Schulze: Im Kern liegt das Problem darin, dass die Vorstädte eine Wohnform darstellen, die in einem Frankreich geschaffen wurde, das es heute nicht mehr gibt. Sie wurden zwischen 1950 und 1970 gebaut und vor allem für ein industrialisiertes Frankreich gedacht, das im Grunde seine ganze wirtschaftliche und soziale Grundlage in der Industrie sah. Die Immigrantinnen und Immigranten kamen in die Vorstädte und sollten dort arbeiten. Ab den 1970er- und 80er-Jahren fand eine massive Deindustrialisierung statt. Die Industrie verschwand, aber nicht die Wohnformen. Diese Wohnformen – und damit die Vorstädte – sind ein Überbleibsel dieser Zeit. Die Deindustrialisierung hat also dazu geführt, dass es sich um eine – aus heutiger Sicht – sozialpolitische Fehlkonstruktion handelt.

Marseille: Junger Mann stirbt bei Protesten

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Die Staatsanwaltschaft von Marseille hat eine Untersuchung eröffnet, nachdem während der Proteste in der südfranzösischen Stadt Marseille ein 27-Jähriger gestorben ist. Das teilt die Staatsanwaltschaft am Dienstag mit. Der Mann ist in der Nacht von Samstag auf Sonntag gestorben. Auslöser war gemäss Staatsanwaltschaft vermutlich ein heftiger Schlag auf die Brust durch ein Gummigeschoss.

Was hat man konkret falsch gemacht?

Man hat die Veränderungen der Arbeitswelten nicht politisch auf die Lebenswelten der Menschen übertragen: auf die Wohnformen; auf die Art und Weise, wie sie sich sozial etablieren oder auf Immigration. Es werde sich schon selbst regeln, sagte man sich. Und wo es nicht geregelt wird, wird der Staat eingreifen und irgendwelche Massnahmen ergreifen. Aber letztlich liess man etwa vier bis fünf Millionen Menschen in diesem sozialen Wandel allein.

Ein komplett abgebranntes Auto steht auf einer Strasse mitten am Tag.
Legende: Montreuil, nahe Paris: Überreste eines ausgebrannten Autos nach nächtlichen Plünderungen und Ausschreitungen. (1. Juli 2023) EPA/JULIEN MATTIA

Nach dem Zweiten Weltkrieg herrschte massive Wohnungsnot in Frankreich. Die Verstädterung wurde vorangetrieben, wobei sie massgeblich durch das Konzept der räumlichen Trennung von Arbeit und Wohnen beeinflusst wurde. Dann verloren die Menschen in den Vorstädten ihre Arbeit. Was machte das mit ihnen?

Der Mensch in Frankreich hat in den 70ern nach dem Prinzip «métro, boulot, dodo» (zu Deutsch: Pendeln, Arbeiten, Schlafen) gelebt. So habe ich es noch in Frankreich kennengelernt. Doch dann fällt dieses Bild weg. Man hatte nur noch ein Dodo und lebte in diesen Quartieren praktisch ohne Perspektive. Etwa ein Drittel bis die Hälfte der Bevölkerung hatte keine andere Wahl mehr, als in diesem Quartier zu leben, während die politischen Entscheidungen in den entwickelten urbanen Räumen getroffen wurden. Das hat die grosse Kluft zwischen den Vorstädten und den Räumen in der Stadt geschaffen.

Welche Rolle spielt der Islam in der Vorstadtproblematik?

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Reinhard Schulze: «Es ist nicht leicht, hierauf in wenigen Worten zu antworten. Nur so viel: Erstens wird seit den frühen 1990-Jahren der Islam zunehmend in den Vorstädten als Kategorie der Herkunft und Zugehörigkeit betont. Die persönliche Frömmigkeit tritt dabei in den Hintergrund. Dies soll es manchen ermöglichen, Eigenständigkeit im Prozess der Integration zu wahren.

Zweitens wird diese Identität durch verschiedene islamische Gruppen mit sehr unterschiedlichen religiösen Ausrichtungen angesprochen: vor allem von den Tablighis, einer aus Indien stammenden Missionsgesellschaft, die vor allem für eine strenge islamische Lebensführung wirbt.

Und schliesslich wurde der Islam auch von einigen Protestierenden – wie auf aktuellen Videos ersichtlich – genutzt, um eine Vergeltungshaltung zum Ausdruck zu bringen. Sie sind aber eher Einzelfälle. Die Milieus, die noch vor wenigen Jahren den Nährboden für eine terroristische Haltung boten, finden kaum noch Zuspruch.»

Wie könnte man das Problem in den Banlieues lösen?

Es geht nicht ohne eine Staatsreform. Ohne eine Veränderung des Verständnisses der Instrumente, mit dem der Staat auf solchen gesellschaftlichen Wandel zielt, wird nichts passieren. Bisher meinte man, betrachtet man die jüngsten Reaktionen des Innenministers, der starke Staat müsse das Problem paternalistisch lösen. Dieser Paternalismus ist Gift. Der Staat soll keine Art von Fürsorge entwickeln, sondern die Menschen ermächtigen, selbst an der Lösung ihrer eigenen sozialen Misere zu arbeiten und mitzuwirken. Viel wichtiger sind Partizipation, Repräsentation, Entbürokratisierung und Dezentralisierung der Entscheidungs- und Verantwortungsstrukturen. Zudem muss es vor Ort angepasste Lösungen geben: in Lille anders als in Lyon, in Lyon anders als in Paris, in Paris anders als in Montpellier und so weiter. Wenn man das schafft, wird man besser zu einer Lösung kommen, als wenn das Ganze als staatlicher Verwaltungsakt geführt wird.

Das Gespräch führte Nico Schwab.

Audio
Nach Krawallen: Frankreichs Polizeiarbeit im Fokus
aus Echo der Zeit vom 03.07.2023. Bild: REUTERS/Yves Herman
abspielen. Laufzeit 7 Minuten 38 Sekunden.

SRF 4 News, 04.07.2023, 11:30 Uhr ; 

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