Die Bilanz der Krawallnächte in den Vorstädten Frankreichs: Hunderte brennende Autos und Abfalltonnen, Angriff auf das Wohnhaus eines Bürgermeisters, Tausende Festnahmen. Die Frage stellt sich: Was sind die Gründe dafür? Frankreich-Kenner Reinhard Schulze ordnet ein.
SRF News: Weshalb gibt es solche Zustände in den Banlieues?
Reinhard Schulze: Im Kern liegt das Problem darin, dass die Vorstädte eine Wohnform darstellen, die in einem Frankreich geschaffen wurde, das es heute nicht mehr gibt. Sie wurden zwischen 1950 und 1970 gebaut und vor allem für ein industrialisiertes Frankreich gedacht, das im Grunde seine ganze wirtschaftliche und soziale Grundlage in der Industrie sah. Die Immigrantinnen und Immigranten kamen in die Vorstädte und sollten dort arbeiten. Ab den 1970er- und 80er-Jahren fand eine massive Deindustrialisierung statt. Die Industrie verschwand, aber nicht die Wohnformen. Diese Wohnformen – und damit die Vorstädte – sind ein Überbleibsel dieser Zeit. Die Deindustrialisierung hat also dazu geführt, dass es sich um eine – aus heutiger Sicht – sozialpolitische Fehlkonstruktion handelt.
Was hat man konkret falsch gemacht?
Man hat die Veränderungen der Arbeitswelten nicht politisch auf die Lebenswelten der Menschen übertragen: auf die Wohnformen; auf die Art und Weise, wie sie sich sozial etablieren oder auf Immigration. Es werde sich schon selbst regeln, sagte man sich. Und wo es nicht geregelt wird, wird der Staat eingreifen und irgendwelche Massnahmen ergreifen. Aber letztlich liess man etwa vier bis fünf Millionen Menschen in diesem sozialen Wandel allein.
Nach dem Zweiten Weltkrieg herrschte massive Wohnungsnot in Frankreich. Die Verstädterung wurde vorangetrieben, wobei sie massgeblich durch das Konzept der räumlichen Trennung von Arbeit und Wohnen beeinflusst wurde. Dann verloren die Menschen in den Vorstädten ihre Arbeit. Was machte das mit ihnen?
Der Mensch in Frankreich hat in den 70ern nach dem Prinzip «métro, boulot, dodo» (zu Deutsch: Pendeln, Arbeiten, Schlafen) gelebt. So habe ich es noch in Frankreich kennengelernt. Doch dann fällt dieses Bild weg. Man hatte nur noch ein Dodo und lebte in diesen Quartieren praktisch ohne Perspektive. Etwa ein Drittel bis die Hälfte der Bevölkerung hatte keine andere Wahl mehr, als in diesem Quartier zu leben, während die politischen Entscheidungen in den entwickelten urbanen Räumen getroffen wurden. Das hat die grosse Kluft zwischen den Vorstädten und den Räumen in der Stadt geschaffen.
Wie könnte man das Problem in den Banlieues lösen?
Es geht nicht ohne eine Staatsreform. Ohne eine Veränderung des Verständnisses der Instrumente, mit dem der Staat auf solchen gesellschaftlichen Wandel zielt, wird nichts passieren. Bisher meinte man, betrachtet man die jüngsten Reaktionen des Innenministers, der starke Staat müsse das Problem paternalistisch lösen. Dieser Paternalismus ist Gift. Der Staat soll keine Art von Fürsorge entwickeln, sondern die Menschen ermächtigen, selbst an der Lösung ihrer eigenen sozialen Misere zu arbeiten und mitzuwirken. Viel wichtiger sind Partizipation, Repräsentation, Entbürokratisierung und Dezentralisierung der Entscheidungs- und Verantwortungsstrukturen. Zudem muss es vor Ort angepasste Lösungen geben: in Lille anders als in Lyon, in Lyon anders als in Paris, in Paris anders als in Montpellier und so weiter. Wenn man das schafft, wird man besser zu einer Lösung kommen, als wenn das Ganze als staatlicher Verwaltungsakt geführt wird.
Das Gespräch führte Nico Schwab.