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Lese-Rechtschreibstörung Leben als Legasthenikerin: «Ich dachte, ich sei dumm»

Legasthenie hat nichts mit Faulheit oder Dummheit zu tun. Trotzdem sind Schulkinder mit Vorurteilen konfrontiert.

Gut fünf Prozent der Schweizer Bevölkerung leiden an einer Lese-Rechtschreibstörung, auch bekannt als Legasthenie. Zu ihnen zählt auch Yoninah Steiner.

«Puls» traf sie das erste Mal vor neun Jahren. Für die damals 13-Jährige war jedes Diktat eine Herkulesaufgabe mit wenig Aussicht auf Erfolg. Yoninah ist nicht die Einzige in ihrer Familie: Ihre Grossmutter, ihre Mutter und ihr grosser Bruder leiden ebenfalls an Legasthenie.

Kein Zufall: Ist die Mutter oder der Vater Legastheniker, so leidet die Tochter mit 25-prozentiger Wahrscheinlichkeit auch daran. Ein Sohn gar zu 50 Prozent.

In neuropsychologischen Tests wurde Yoninahs Diagnose bestätigt. Lernstörungen sind keine Frage der Intelligenz: Yoninah zeigte ein gutes abstraktes Denken, Tiernamen konnte sie im Test mühelos aufzählen. Doch beispielsweise Worte mit dem Anfangsbuchstaben «S» zu finden, bereitete ihr Mühe.

Lernstörungen sind keine Frage der Intelligenz

Während bei anderen das Gehirn Buchstaben und Laute problemlos erkennt und zusammenführt, geht dies bei Legasthenikern nur mit Einschränkungen. Ein «Mond» wird zu «Mod», «Mondt» oder «Momb». Der Klang ist hier immer noch ähnlich, aber das Wort falsch geschrieben.

Wer sich mit Lernstörungen wie der Legasthenie auseinandersetzt, merkt schnell: Jede schriftliche Aufgabe wird zur Knochenarbeit.

Neben der Herausforderung im Unterricht kämpfen Menschen mit Lernstörungen auch gegen Vorurteile an. «Ich dachte zuerst, ich sei dumm. Die anderen haben die Fehler nicht gemacht», so die damals 13-jährige Yoninah.

Doch Lernstörungen haben nichts mit Dummheit oder Faulheit zu tun. Die Forschung zeigt, dass bei einer Legasthenie bestimmte Hirnareale beim Lesen anders, schwächer funktionieren. Die Wahrnehmung ist beeinträchtigt. So ist es mit Fleiss nicht einfach wieder ausgebügelt.

Die Diagnose gilt rechtlich als eine Behinderung. Einen Legastheniker ohne Unterstützung durch die Schule zu peitschen, kann zu grossem Leidensdruck und Schulversagen führen. Vergleichbar mit der Situation eines Gehbehinderten, der ohne Hilfsmittel Treppensteigen soll. Für mehr Chancengleichheit braucht es Massnahmen, die der legastheniebedingten Beeinträchtigung gerecht werden.

Legasthenie-Verdacht abklären lassen

Legasthenie ist unheilbar, genau wie die weniger bekannte Lernstörung Dyskalkulie, die Rechenstörung. Doch in Therapien mit Heilpädagoginnen oder Logopäden kann man Fähigkeiten und Strategien trainieren. Auch sollten Schulen Kinder bei Legasthenie-Verdacht abklären lassen. Bei einer Diagnose haben sie Anspruch auf einen Nachteilsausgleich: etwa mehr Zeit bei Prüfungen oder eine stärkere Gewichtung von mündlichen statt schriftlichen Noten.

Auch Yoninah musste sich immer wieder Gehör verschaffen und ihren Anspruch auf Nachteilsausgleich einfordern. Heute hat sie die Matura geschafft – einfach war es nicht. Die Legasthenie ist immer noch die gleiche wie vor neun Jahren, doch die 22-Jährige hat mittlerweile Strategien gefunden, um damit umzugehen. «Ich sehe es nicht mehr so sehr als Lernschwäche, sondern mehr als mein eigenes Denken, das einfach anders ist als das der meisten Menschen.»

Drei Fragen und Antworten zu Lernstörungen

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SRF: Stichwort differenzierter Unterricht für Menschen mit Lese-Rechtschreibstörung (LRS): Was können sinnvolle Differenzierungen sein? Was, wenn keine Differenzierung stattfindet?

Monika Lichtsteiner, Psychologin: «Mit sinnvollen Differenzierungen ist gemeint, dass die unterschiedlichen Bedürfnisse berücksichtigt werden. Wer beispielsweise mit den Augen sehr langsam liest (‹Augenlesen›), hat in der Regel Probleme, den Text zu verstehen. Das Lernen aus Texten ist dann erschwert. Wird der Text vorgelesen (zum Beispiel durch eine App oder eine Person), dann können Lernende mit LRS den Text in der Regel gut verstehen (‹Ohrenlesen›). Lernen aus Texten ist so viel besser möglich. Wenn keine Differenzierung stattfindet, dann kann ein Gespräch mit der Schule helfen.»

Kann Strategie-Wissen helfen? Wie kann dies sinnvoll vermittelt werden, insbesondere wenn die LRS erst in der 5. Klasse diagnostiziert wird und das Selbstvertrauen und die Motivation bereits gelitten haben?

Susanne Kempe, Logopädin/Dozentin: «Strategie-Wissen ist vor allem ab einem bestimmten Alter sehr wichtig. Dabei geht es nicht mehr ausschliesslich ums Üben und sich Verbessern, sondern darum, trotzdem zum Ziel zu kommen. Das kann Lernstrategien, aber auch das Nutzen von Hilfsmitteln betreffen. Bei der Vermittlung geht es darum, individuell passende Strategien zu finden. Also verschiedenes ausprobieren und herausfinden, was weiterhilft. Das ist besonders wichtig, wenn ein Kind oder Jugendlicher bereits viel Misserfolge hinter sich hat. Was leider immer wieder vorkommt.»

Raten Sie Kindern in der Primarschule, den Klassengspänlis mitzuteilen, dass eine Lese-Rechtschreib-Schwäche vorliegt, damit man allenfalls nicht ausgelacht, blöd hingestellt wird?

Monika Brunsting, Psychologin/Psychotherapeutin: «Das finde ich eine wichtige Aufgabe der Lehrperson. Jeder ist anders, nicht alle sind überall gleich gut. Wissen Sie, dass es sehr berühmte Legastheniker gibt? Schauen Sie im Netz. Sie werden staunen! Kürzlich hat ein Schweizer den Nobelpreis erhalten, der als Legastheniker sehr mühsam durch die Schulen ging

Hilfe bei Lernstörungen

Puls, 12.04.2021, 21:05 Uhr

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