Surreal, ein Schock, physisch spürbar: Wenn die Schlüsselfiguren der CS-Krise auf die Ereignisse zurückblicken, wählen sie eindringliche Worte. «Es hat einem schon etwas den Atem genommen», sagt Finanzministerin Karin Keller-Sutter. UBS-Vizepräsident Lukas Gähwiler spricht von Erinnerungen, die sich eingebrannt hätten. Er sehe den Augenblick wie eine Fotografie vor sich, sagt er, als er vom Mittwoch, 15. März, erzählt.
Mittwoch: Die UBS reist mit elf Forderungen an
Um 12:59 Uhr erfährt Gähwiler, dass die UBS am Nachmittag zu einer dringenden Sitzung bei der Finma geladen ist. Er weiss sofort, worum es geht: «Die CS hatte schon länger Probleme, diese haben sich über die Monate und Wochen zugespitzt. Wir waren darauf vorbereitet, trotzdem war es ein Schockerlebnis.» In zwei schwarzen Limousinen reist die UBS-Delegation an diesem sonnigen Nachmittag zur Aufsichtsbehörde Finma – angeführt von UBS-Präsident Colm Kelleher. «Bei gutem Wetter laufen wir jeweils dorthin», sagt Gähwiler. An diesem Tag verzichten sie auf einen Spaziergang. Die UBS-Delegation will nicht gesehen werden.
16 Uhr: Die Spitzen der Nationalbank, der Finma und Bundesrätin Keller-Sutter bereiten die Krisensitzung vor. Sie lassen die UBS etwa eine Viertelstunde warten. Dann eröffnet Bundesrätin Karin Keller-Sutter die Sitzung: «Wir haben ihnen gesagt: ‹Es ist jetzt so weit. Die Credit Suisse geht mutmasslich Konkurs.›» Es sei noch nicht darum gegangen, Einzelheiten zu besprechen. Aber die UBS-Delegation äussert klare Vorstellungen.
Wir wollten diese Transaktion nicht. Wir wollten diesen Telefonanruf nicht. Wir wollten dieses Treffen nicht.
Sie legt ein A4-Blatt vor, darauf eine Liste mit elf Forderungen. Die UBS verlangt vor allem freie Hand bei der Integration des Schweizer Geschäfts der CS. Ausserdem will sie Staatsgarantien sowie eine Bestätigung, dass die UBS die Übernahme nicht von sich aus angestrebt hat. Letzteres betont UBS-Vize Gähwiler fast schon mantraartig: «Wir wollten diese Transaktion nicht. Wir wollten diesen Telefonanruf nicht. Wir wollten dieses Treffen nicht.» Und doch ist die UBS bemerkenswert gut vorbereitet. Und nimmt am nächsten Tag die digitalen Codes entgegen, um ihre Rivalin zu durchleuchten.
Donnerstag: Die US-Finanzministerin am Apparat
8 Uhr: Die UBS ist startklar, um in einem virtuellen Datenraum die Credit Suisse auf Herz und Nieren zu prüfen. Sie will wissen, welche Werte in der CS stecken und vor allem, welche Risiken die Bank birgt. Die Zeit ist knapp, es ist eine Wirtschaftsprüfung im Schnelldurchlauf. Aber es kommt zu Verzögerungen; die technischen Abläufe sind komplex, die Sicherheitsstandards hoch. Lukas Gähwiler sagt dazu: «Das ist ein sehr intensiver, teilweise hektischer und manchmal auch fast ein bisschen chaotischer Prozess.»
In Bern laufen unterdessen die Drähte heiss. Bundesrätin Keller-Sutter telefoniert mit ausländischen Finanzministerinnen und Finanzministern. Deren Sorge ist gross: Wegen der Credit Suisse droht eine internationale Finanzkrise. Sie wollen wissen, welche Lösungen die Schweiz prüft. Keller-Sutter nimmt sich vor, ruhig zu bleiben. Aber spätestens als die US-Finanzministerin Janet Yellen in der Leitung ist, macht sich auch bei ihr Anspannung breit: «Normalerweise sitze ich beim Telefonieren. Aber da bin ich unten im Bernerhof herumgelaufen.» Und Keller-Sutter spürt die internationale Aufmerksamkeit: «Ich hatte den Eindruck, die Welt hält den Atem an, bis wir eine Lösung haben.»
Freitag: Dank Finanzspritzen ins Wochenende
Die Credit Suisse droht jeden Moment zu kollabieren, weil die Kundinnen und Kunden täglich Milliarden abziehen. Sie braucht Nothilfe, um überhaupt bis zum Wochenende zu überleben. Bereits in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag leiht ihr die Schweizerische Nationalbank bis zu 50 Milliarden Franken. Am Freitag kommen nochmals 20 Milliarden Franken dazu. «Wenn wir diese Notliquidität nicht ermöglicht hätten, dann wäre es am Freitag nach dem Mittag schon fertig gewesen», sagt Karin Keller-Sutter im Rückblick.
Man hat sich zwar gegenseitig ein schönes Wochenende gewünscht, aber so richtig daran geglaubt hat man nicht.
Die CS-Mitarbeitenden verlassen das Büro am Freitagabend mit gemischten Gefühlen. Einer von ihnen sagt: «Man hat sich zwar gegenseitig ein schönes Wochenende gewünscht, aber so richtig daran geglaubt hat man nicht.» Kurz nach 22 Uhr erfährt die Öffentlichkeit erstmals, dass die UBS Gespräche führt, um die CS zu übernehmen.
Die Meldung kommt von der Wirtschaftszeitung «Financial Times». Für die Redaktion in London ist es die grösste Geschichte im globalen Finanzwesen seit Jahren, sagt FT-Journalist Stephen Morris: «Wir haben sofort unsere Terminkalender freigeräumt.» Die Zeitung ist auffallend gut informiert in diesen Tagen, das bemerkt auch Bundesrätin Keller-Sutter: «Einiges war erschreckend richtig, anderes erschreckend falsch.»
Samstag: Krisenmanagement in Militärdecken
Eine zentrale Frage ist zu diesem Zeitpunkt noch offen: Wie viel ist die Credit Suisse der UBS wert? Am Samstag liegt es an UBS-Präsident Colm Kelleher, erstmals eine Zahl zu nennen. Der Bankenjournalist Dirk Schütz hat die Verhandlungen in einem Buch rekonstruiert. Er sagt, die UBS einige sich erst intern auf drei Milliarden Franken als Kaufangebot. Doch vonseiten der Nationalbank komme es zu einer überraschenden Reaktion: «Der Nationalbankchef Thomas Jordan meinte, drei Milliarden seien eigentlich zu viel. Eine Milliarde würde reichen.»
Die UBS-Spitze reagiere erstaunt, korrigiere ihr Startangebot jedoch entsprechend nach unten. Am Samstagabend konfrontiert die UBS laut Schütz zum ersten Mal die CS mit ihren Preisvorstellungen und bietet eine Milliarde Franken. CS-Präsident Axel Lehmann ist laut Schütz schockiert. Und fordert in einem Schreiben an Bundesrätin Karin Keller-Sutter, SNB und Finma einen höheren Preis für die Credit Suisse.
In Daunenjacken und Militärdecken haben sie an Verordnungen und an Lösungen gearbeitet.
Im Bernerhof, wo Keller-Sutter ihr Büro hat, stellen sich die Krisenteams auf eine kurze Nacht ein. Rund 150 Personen gehen im Regierungsgebäude ein und aus. Pizzakartons türmen sich, es sieht aus wie in einem Camping, sagt Keller-Sutter. Und weil sich die Schweiz auf eine drohende Energiemangellage vorbereitet und Sparmassnahmen implementiert hat, frieren die Leute: «In Daunenjacken und Militärdecken haben sie an Verordnungen und an Lösungen gearbeitet.» Der Abwart lässt Keller-Sutter wissen, dass es einen Bundesratsentscheid braucht, um die Heizungen aufzudrehen. Die Finanzministerin antwortet: «Gut, also wenn es nur das ist, dann entscheide ich das.»
Sonntag: Verhandeln bis zur Unterschrift
Um 9 Uhr Sitzung mit der CS, dann um 10 Uhr mit der UBS. So steht es auf der Agenda des Bundesrats am Sonntagmorgen. Zwischen den Sitzungen begegnen sich die Delegationen zum ersten Mal in Person in dieser Krise. Obwohl man sich kenne, werde in dieser Situation kein Wort zu viel gewechselt, sagt UBS-Vize Lukas Gähwiler: «Man war davor auch schon mal auf ein Bier gewesen und plötzlich sieht man sich in einer völlig anderen Konstellation.»
Damit am Abend die Übernahme verkündet werden kann, braucht es unter anderem die Zustimmung der Finanzdelegation des Parlaments. Sie hat in dieser Ausnahmesituation die Hoheit über die Staatskasse – und entscheidet, ob sie die 109 Milliarden Franken Staatsgarantien für den UBS-Deal absegnet oder nicht. Sagt sie nein, ist der Deal vom Tisch.
Die Präsidentin der Delegation, die damalige SP-Nationalrätin (FR) Ursula Schneider Schüttel, leitet die Sitzung im Bundeshaus. Die Sitzung dauert neun Stunden, sagt Schneider Schüttel: «Dieses Adrenalin, das dann wahrscheinlich schon auch geflossen ist, hat uns wirklich erlaubt, sehr konzentriert und letztlich auch effizient an die Sache heranzugehen.» Nein zu sagen, sei unter diesen Umständen eigentlich keine Option, sagt Schneider Schüttel: «Die wirtschaftliche Situation der Schweiz stand auf dem Spiel.»
Ich habe gedacht, jetzt verlieren wir wieder Zeit! Die können doch jetzt mal einlenken. Wissen die auch, wie spät es ist?
Während die Finanzdelegation über die Garantien diskutiert, laufen zähe Verhandlungen über die Details der Übernahme. Angesichts des Zeitdrucks kommt bei Bundesrätin Karin Keller-Sutter auch mal Ärger auf: «Ich habe gedacht, jetzt verlieren wir wieder Zeit! Die können doch jetzt mal einlenken. Wissen die auch, wie spät es ist?» Am Ende gelingt es der CS-Spitze, den Preis auf drei Milliarden hochzutreiben. Die UBS erhält vom Staat eine Verlustgarantie von 9 Milliarden Franken, die Nationalbank stellt Liquiditätshilfen von bis zu 200 Milliarden Franken bereit. Als Karin Keller-Sutter davon erfährt, dass sich die beiden Verwaltungsräte einig sind, freut sie sich. Doch sie traut der Sache erst, als sie die Unterschriften sieht. Zwischen 17 und 17:30 Uhr sei das gewesen, sagt Keller-Sutter: «Spitz auf Knopf.»
Fast eine Million Zuschauerinnen und Zuschauer verfolgen an jenem Sonntagabend die SRF-Liveberichterstattung zur Medienkonferenz des Bundesrats. In den Minuten davor versammeln sich die Schlüsselfiguren der Übernahme im Foyer des Bernerhofs, darunter Spitzen von Bund und Behörden sowie der beiden Banken. «Das war ganz komisch», erinnert sich Keller-Sutter. Fast 100 Stunden wurde unter Hochdruck an einer Lösung für die CS-Krise gearbeitet. Und nun plaudert man miteinander in der Lobby. Es sind nur einige Schritte hinüber zum Medienzentrum, wo um 19:30 Uhr Bundespräsident Alain Berset die historische Medienkonferenz eröffnet und den Deal verkündet.