Es wird gerade hell, als Walter Wüthrich die Tür zu seiner Praxis aufschliesst. Er zündet in allen Räumen das Licht an, fährt die Computer hoch. Der Arzt nutzt die Zeit, um Akten zu studieren und Patientendossiers zu ergänzen. Um acht Uhr öffnet seine Hausarztpraxis in Hasle bei Burgdorf BE. Meistens kommen die ersten Patienten bereits etwas früher. Wüthrich macht eine dreiviertel Stunde Mittagspause. Feierabend hat er meist erst nach zwanzig Uhr.
«Keine halben Sachen»
Walter Wüthrich ist geschieden, auch, weil er zu wenig zuhause war. Wüthrich hat eine neue Partnerin. Weniger arbeiten tut er nicht. «Ich mache den Job aus Leidenschaft», sagt der 67-jährige. «Nur fünfzig Prozent zu arbeiten, würde mir nicht liegen. Ich mag keine halben Sachen.»
Der Hausarzt nimmt immer noch neue Patienten auf, aber nur, wenn sie im Dorf wohnen. Hausärzte werden zur Mangelware. Im Emmental machen immer mehr Praxen dicht – wie in der ganzen Schweiz. «In zehn Jahren fällt annähernd die Hälfte der heutigen Allgemeinmediziner weg», sagt Sven Streit, Professor am Berner Institut für Hausarztmedizin. Dieser Hausärztemangel entsteht vor allem durch anstehende Pensionierungen, zeigt eine Studie von Sven Streit.
Teilzeit gefragt
In einer anderen Studie kommt Streit zum Resultat: Nur jeder Zehnte der jungen Hausärztinnen und Hausärzte möchte eine Einzelpraxis führen. Grund ist vor allem der Wunsch nach mehr Freizeit. Knapp vierzig Prozent wollen drei Tage oder weniger in der Woche arbeiten. Die Studie stammt aus dem Jahr 2019, eine neue ist derzeit in Bearbeitung.
Vergeblich sucht Wüthrich nach einer Nachfolge für seine Arztpraxis. Auf tausendfränkige Inserate, die er in der Ärztezeitung geschaltet hat, meldeten sich nur wenige, und die hätten oft nicht einmal richtig Deutsch gekonnt. Dazu kommt: Viele junge Mediziner wollen gar nicht Hausarzt werden – zu hohe Belastung, zu kleiner Verdienst.
Die meisten jüngeren Hausärztinnen und Hausärzte entscheiden sich für einen Teilzeit-Job. So wie Sabrina Albisser, Ärztin in Oberkirch LU. Zusammen mit fünf anderen Ärzten arbeitet sie in einer Praxisgemeinschaft am Sempachersee, alle mit einem Pensum zwischen 50 und 80 Prozent.
Das liegt mir auf dem Magen, dass ich meine Leute ihrem Schicksal überlasse.
Einmal die Woche besprechen sie die komplizierten Fälle. Der Gedankenaustausch sei bereichernd, sagt Sabrina Albisser. Auch die Patienten profitierten davon.
«Nicht weniger Leidenschaft»
Wie der Arzt Wüthrich aus dem Emmental möchte keiner hier leben. «Das heisst nicht, dass wir weniger Leidenschaft haben», sagt Sabrina Albisser. «Aber wir leben nicht nur für den Beruf. Wir wollen auch Zeit für die Familie haben.»
Spätestens in drei Jahren, wenn er siebzig wird, will Walter Wüthrich seinen Beruf an den Nagel hängen. Seine Patienten müssen dann einen neuen Arzt finden. «Das liegt mir auf dem Magen», sagt Wüthrich. «Dass ich meine Leute ihrem Schicksal überlasse.»