- Seit Februar 2020 können sich Personen, die sich als Opfer von IV-Willkür sehen, an eine Online-Meldestelle wenden.
- Eine Auswertung der bisherigen Meldungen ergab: Fast zwei Drittel der Meldenden (64.2 Prozent) empfanden das Gesprächsklima bei IV-Begutachtungen als schlecht oder sehr schlecht.
- Die Meldestelle hat der Dachverband der Behindertenorganisation Inclusion Handicap aufgeschaltet.
25 Betroffene gaben an, dass ihr Gespräch weniger als 30 Minuten gedauert habe. Einige Personen gaben an, von ihren Gutachtern beschimpft und despektierlich behandelt worden zu sein. «In einem bestimmten Fall hat der Gutachter während des Gesprächs mit dem Hund gespielt. In einem anderen Fall wurde die betroffene Person vom Gutachter als Hexe beschimpft», sagt Julien Neruda, Geschäftsleiter von Inclusion Handicap.
Diese Ergebnisse geben Inclusion Handicap zu denken, denn immer wieder wird der Vorwurf laut, einige wenige Gutachter würden sich mit Gefälligkeitsgutachten eine goldene Nase verdienen. Denn: Müssen für ein Gutachten nur eine oder zwei Fachdisziplinen abgeklärt werden, können die 26 IV-Stellen diese Begutachtungen direkt vergeben.
Nachdem die Kritik im vergangenen Jahr besonders laut wurde, gab Bundesrat Alain Berset dazu eine externe Untersuchung in Auftrag. Das Resultat ist noch ausstehend.
Die am 28. Februar von Inclusion Handicap lancierte Online-Meldestelle richtet sich an betroffene Personen, aber auch an ihre Rechtsberater und an behandelnde Ärzte.
Wir nehmen diese Fälle sehr ernst, der Handlungsbedarf ist gross.
Viele der Meldenden gaben an, dass die Gutachter voreingenommen in das Gespräch kämen und sie als Simulanten behandelt worden seien, sagt Julien Neruda von Inclusion Handicap. Er bezeichnet die Resultate als schockierend: «Wir nehmen diese Fälle sehr ernst, der Handlungsbedarf ist gross.»
Die Resultate würden die Missstände bestätigen, auch gebe es ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen der IV und ihren Gutachtern: «Leider muss man sagen, dass viele Gutachter wirtschaftlich abhängig von der IV sind. Dafür sprechen auch die Zahlen vom Bundesamt für Sozialversicherung.»
Gestützt auf das Öffentlichkeitsgesetz hat SRF diese Zahlen eingesehen. Diese zeigen, dass seit 2013 über 190 Millionen Franken von den IV-Stellen für das Erstellen von mono- und bidisziplinären Gutachten ausgegeben wurden. Eine Gruppe von zehn Prozent der Dienstleistungserbringer (191) bekam 87 Prozent der Gesamtsumme. Ein Drittel der Gesamtsumme ging sogar an ein Prozent der Dienstleister (19).
Julien Neruda von Inclusion Handicap macht sich für ein neues System stark: «Wir fordern, dass in Zukunft alle Gutachter nach einem Zufallsprinzip ausgelesen werden, wir fordern auch die Aufsichtsbehörde auf, hinzuschauen, sodass gravierende Fälle nicht mehr passieren.»
Die Aufsichtsbehörde, das Bundesamt für Sozialversicherung, wollte sich zu der Forderung und den Resultaten der Online-Meldestelle nicht äussern. Das Amt verweist auf die externe Untersuchung, die in den kommenden Wochen publiziert werden soll. Bis dahin werde man sich zu dem Thema nicht äussern.