Sein erstes Ziel war eine Synagoge in der Stadt Zürich. Als er die Türe verschlossen vorfand, wartete er. Wenige Stunden zuvor hatte der 15-jährige Schweizer mit tunesischen Wurzeln ein Selfie-Video aufgezeichnet und seine Absicht festgehalten: Möglichst viele Juden töten im Namen der Terrororganisation «Islamischer Staat» (IS). Als am Samstag, 2. März, nach 21 Uhr ein 50-jähriger Gläubiger die Synagoge verliess, folgte er ihm. Und stach mehrmals auf ihn ein. Schwer verletzt überlebte der Mann.
Im ständigen Austausch mit IS-Anhängern
Recherchen von SRF zeigen nun, dass der Täter mit IS-Anhängern in direktem Austausch stand für die Planung eines grösseren Anschlags in der Schweiz. Eine Art von Leitfiguren drängten den 15-Jährigen dazu, einen Sprengsatz zu bauen. Er solle dafür Chemikalien nutzen. Während Tagen sprachen sie über die nötigen Schritte. Wo die Bombe hätte eingesetzt werden sollen, ist nicht bekannt.
Der Austausch fand auf der Plattform Discord statt, dort wurde er regelrecht betreut und angeleitet. Die anderen Nutzer konnten nicht identifiziert werden, aber ihr Vorgehen entspricht der Strategie des IS.
Täter kaufte keine Chemikalien
Auf Geräten des jungen Mannes wurde eine ganze Sammlung von Anleitungen zum Bau von Bomben gefunden. Tatsächlich gekauft hat er keine der nötigen Chemikalien – offenbar war ihm der Plan seiner Führungsleute beim IS zu riskant.
Am 29. Februar, drei Tage vor der Tat, schrieb er um 20.42 Uhr: «Planänderung ist fällig.» Am Abend vor der Tat erwarb er in einem Einkaufszentrum das Messer, sowie eine Gabel, zwei Teller und einen Becher – um nicht aufzufallen, so seine Überlegung.
So geht es dem Opfer heute
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Legende:
Mahnwache gegen Antisemitismus nach der Messerattacke auf einen Juden (Zürich, 10. März 2024).
Keystone/Gaetan Bally
Der angegriffene jüdische Mann hat wohl nur überlebt, weil Passanten eingeschritten waren, als der Täter wiederholt auf ihn einstach, und dank der Erstversorgung durch eine Polizeipatrouille. Lebenswichtige Organe wurden verletzt, in der Nacht waren Notoperationen nötig, später eine längere Rehabilitationstherapie.
Jonathan Kreutner, Generalsekretär des Israelitischen Gemeindebundes SIG steht in regelmässigem Kontakt mit dem Mann und dessen Familie: «Er hat mir gesagt, dass es nicht nur aus seiner religiösen Sicht, sondern auch wie ihm ein Arzt gesagt habe, ein Wunder sei, dass er überlebt hat.»
Kreutner sagt, seine körperlichen und seelischen Wunden seien noch nicht ganz verheilt. Er habe teils Schmerzen und immer wieder Angstzustände. «Auch fast ein Jahr danach ist er noch nicht zu seinem Alltag von vor der Tat zurückkehrt.» Die Tat sei noch immer eine schwere Belastung, auch für seine Familie. Seine erwachsene Tochter und sein Schwiegervater haben ihn blutüberströmt auf dem Trottoir liegen sehen, während der Täter sie anschrie: «Ich bin hier, um Juden zu töten!» Wie für die ganze jüdische Gemeinschaft sei der Angriff ein Schock gewesen, den viele noch heute nicht überwunden hätten, sagt Kreutner.
Die Vorbereitung der Tat nahm offenbar seine ganze Aufmerksamkeit ein und er isolierte sich von seiner Familie. Diese gab nach dem Anschlag an, er sei gehänselt worden und leide an einer psychischen Erkrankung.
Gemäss einem psychologischen Gutachten bestätigt sich dies nun: Diagnose Autismus-Spektrum-Störung mittleren Grades, so das Fazit eines über 100-seitigen Gutachtens. Seit dem dritten Lebensjahr habe sich dies gezeigt in eingeschränkten sozialen Interaktionen, einem Mangel an Empathieoder auch stark vertieften Spezialinteressen wie zeitweise an Dinosauriern.
Gutachter sieht verminderte Schuldfähigkeit
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Die psychiatrische Begutachtung des Beschuldigten ergab neben der Diagnose Autismus-Spektrum-Störung auch, dass er in den letzten zwei Jahren zunehmend unter psychischem Leidensdruck gestanden habe, dies weil er an der Schule gehänselt wurde und wegen einer Abstufung in der Schule. Daraus habe sich eine Depression mit suizidalen Absichten während des Angriffs entwickelt.
Seine Intelligenzentwicklung sei nicht gestört, so das Gutachten weiter. Und die Einsichtsfähigkeit sei gegeben, das bedeutet, er sei fähig, Recht von Unrecht zu unterscheiden. Mittelgradig vermindert sei die Steuerungsfähigkeit, also das Vermögen, seine Handlungen zu kontrollieren.
Dies scheint mit dem Autismus zu erklären sein, der bei ihm zu einer Art Zwang oder Gefangenschaft in der Ideologie des IS und den Anweisungen seiner Kontaktpersonen geführt hat. Was er als richtig erachtet, scheint ihm unumstösslich zu sein.
Die umfangreichen und präzisen sowie überlegten Vorbereitungshandlungen – etwa die Überlegung, wie gross das Risiko ist beim Kauf von Chemikalien oder eines Messers erwischt zu werden – deuten aber darauf hin, dass er doch zu einem grossen Teil steuerungsfähig war.
Im Fazit kommt das Gutachten zum Schluss, dass die Schuldfähigkeit des inzwischen 16-jährigen «mittelgradig vermindert» sei, das könnte sich auf das Urteil auswirken. Die juristische Beurteilung obliegt dem Gericht, ein Termin ist noch nicht abzusehen, das Strafverfahren läuft noch.
Selbst herbeigeführte Radikalisierung
Ab dem Frühjahr 2023 – rund ein Jahr vor der Tat – sei es zu einer selbst herbei geführten Radikalisierung gekommen mit exzessivem Konsum von IS-Propaganda. Andere Quellen sagen, der 7. Oktober – das Massaker der Hamas in Israel sowie der folgende Gaza-Krieg – hätten ihn zusätzlich befeuert. Kombiniert mit einer depressiven Störung sei er psychisch verletzlich gewesen.
In dieser Phase tauchte er immer tiefer in die Online-Welt ab – wo sich ab einem unbekannten Zeitpunkt die Kontaktleute des IS sich seiner persönlich annahmen.
Der inzwischen 16-Jährige befindet sich weiter in einer geschlossenen Institution. Gemäss Recherchen von SRF bestritt er die Tat nicht. Das Strafverfahren der Jugendanwaltschaft ist offen, diese äussert sich nicht dazu. Auch der Verteidiger des Jugendlichen lehnt eine Stellungnahme ab.
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