Ein Trainer, der einer Nachwuchssportlerin zu nahe kommt. Oder eine Trainerin, die ihre Schützlinge demütigt und psychisch fertig macht. Das kommt in der Sportwelt leider immer wieder vor. Seit Anfang Jahr können sich Betroffene und Zeuginnen anonym an eine unabhängige Meldestelle wenden, um Missbräuche und Ethikverstösse zu melden.
Die neue Meldestelle wurde geschaffen, nachdem im Herbst 2020 Übergriffe und Missbräuche im Kunstturnen bekannt wurden, durch die sogenannten «Magglingen-Protokolle». Die Meldestelle ist Swiss Sport Integrity angegliedert, der früheren Stiftung Antidoping Schweiz.
Seit der Einführung der Meldestelle vor einem halben Jahr wurden 140 potenzielle Ethikverstösse im Sport gemeldet. Diese hohe Zahl überrascht Ernst König. Er ist Direktor der Stiftung Swiss Sport Integrity.
Dass es sechs oder sieben Meldungen pro Woche sind, hat uns überrascht.
«Wir hatten keine Erfahrungswerte, weder national noch international. Wir haben aufgrund von Erfahrungen der nationalen Verbände und von Swiss Olympic mit ein bis zwei Meldungen pro Woche gerechnet. Dass es jetzt sechs oder sieben Meldungen pro Woche sind, das hat uns schon überrascht», sagt König.
Bedürfnis nach unabhängiger Stelle
Diese hohe Zahl zeige das Bedürfnis nach einer wirklich unabhängigen Stelle. Nach einer, die nicht Teil des Sports selber ist. Zudem seien die 140 Hinweise ein Vertrauensbeweis von Schweizer Athletinnen und Athleten gegenüber der Organisation, sagt der Direktor von Swiss Sport Integrity.
«Wir haben über die Jahrzehnte gute, solide Antidoping-Arbeit geleistet. Die Athletinnen und Athleten haben Vertrauen in unsere Arbeit im Bereich Antidoping. Und ich glaube, wir konnten dieses Vertrauen auch für die neue Tätigkeit zur Geltung bringen.»
Sanktionen sprechen kann die neue Meldestelle nur sehr begrenzt, erklärt König. «Wir sind in der Rolle der Staatsanwaltschaft. Wir untersuchen die Meldungen und wir machen dann Anträge auf Sanktionen.» Entscheiden über etwaige Sanktionen werde die zuständige Disziplinarkammer des Schweizer Sports.
Eine Möglichkeit gebe es dennoch: «Wenn wir der Ansicht sind, dass eine unmittelbare Gefahr für die Betroffenen besteht, dann haben wir die Möglichkeit der vorsorglichen Massnahmen. Wir können beispielsweise einen Trainer für eine kurze, bestimmte Zeit vom Trainingsbetrieb ausschliessen, und so verhindern, dass es weiter zu Schäden kommt.»
Kurzfristig kein Meldungsrückgang erwartet
Die Meldestelle für Ethikverstösse und Missbräuche im Sport sei jedoch nur ein Puzzleteil, um im Sportbereich etwas zu verändern. Auch die Präventionsarbeit sei extrem wichtig, sagt König. Längerfristig rechnet er mit einem Rückgang der Meldungen. Kurzfristig eher nicht.
Denn die Prävention hat auch zum Ziel, die Sensibilität zu erhöhen. «Ich glaube, wenn sich die Betroffenen mit der Thematik auseinandersetzen, dann werden sie sich ermutigt fühlen, uns auch eigene Erlebnisse zu melden», so der Direktor der Stiftung Swiss Sport Integrity.
Zudem werden demnächst Urteile in den Ethikverfahren erwartet. Diese ziehen allenfalls Sanktionen nach sich. «Wir gehen davon aus, dass dadurch Opfer, die ähnliche Dinge erleiden mussten, ermuntert werden, uns eine Meldung uns zu übermitteln», so König. «Ich habe das Gefühl, mittelfristig wird sich das Niveau nicht dramatisch verringern. Aber längerfristig muss das natürlich unbedingt das Ziel sein.»