In katholischen Kreisen kam sie einem Erdbeben gleich: Eine Pilotstudie hat erstmals Zahlen zu Fällen sexuellen Missbrauchs im Umfeld der römisch-katholischen Kirche geliefert.
Das Ausmass habe sie «erschüttert», sagt Renata Asal-Steger. Sie präsidiert die römisch-katholische Zentralkonferenz der Schweiz (RKZ). Die Chefin aller Kantonalkirchen sagt, warum es eine unabhängige Meldestelle braucht. Sie will die Machtballung bei den Bischöfen abschaffen.
SRF News: Die über 1000 dokumentierten Missbrauchsfälle sind nur die Spitze des Eisbergs. Was löst das bei Ihnen aus?
Renata Asal-Steger: Es ist sehr beschämend, dass all diese Menschen Gewalt und Erniedrigung erfahren haben. Ausgerechnet innerhalb der Kirche, wo sie Schutz und Respekt vorfinden sollten. Die drei Auftraggeberinnen der Pilotstudie haben deshalb bereits im Juni beschlossen: Das Forschungsprojekt muss weitergehen. Das ist bitternötig.
Gibt es Leute, die sich bei Ihnen gemeldet haben?
Im Nachgang hat mir eine betroffene Person geschrieben und sich bedankt. Ihr Fall war bereits bekannt.
Aufgrund des Vertrauensverlustes wenden sich viele Betroffene gar nicht mehr an kirchliche Mitarbeitende.
Ich hoffe sehr, dass sich weitere Betroffene öffnen können. Dafür ist es wichtig, dass es eine unabhängige, schweizweit tätige Anlaufstelle ausserhalb des kirchlichen Kontextes gibt. Diese Massnahme haben wir bereits beschlossen und eingeleitet. Denn aufgrund des Vertrauensverlustes wenden sich viele Betroffene gar nicht mehr an kirchliche Mitarbeitende.
Was bedeutet dies für die Arbeit der Menschen an der Basis?
Das ist sehr schwer auszuhalten. Man ist Teil einer Institution, in der Missbräuche stattgefunden haben. Das braucht sehr viel Kraft.
Und Sie persönlich? Wollten Sie den Bettel noch nie hinschmeissen?
Als Mitglied der Genugtuungskommission habe ich Einblick in die Akten. Ich muss sagen, es erschüttert mich immer wieder von Neuem. Trotz allem ist die katholische Kirche aber meine religiöse Heimat. Meine Haltung ist: Trete ich aus, kann ich nicht mehr mitreden. Ich weiss, es gibt Leute, die sagen, solange man dabei ist, unterstützt man das System. Ich sehe es als meine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass es einen Struktur- und Kulturwandel gibt.
Die Studienautorinnen betonten: Rücktritte von Bischöfen reichen nicht. Wie viel Einfluss haben Landeskirchen?
Was man anhand dieser Untersuchung sieht: Wenn es Druck von aussen gibt, werden Zugeständnisse gemacht. Hingegen bin ich nicht zuversichtlich, dass sich von oben herab etwas ändern wird. Die Machtfülle ist für mich ein zentrales Thema. Legislative, Exekutive, Judikative: Alles ist beim Bischof. Diese Macht muss man teilen. Weiter braucht es Gleichberechtigung. Gleiche Würde und gleiche Rechte für alle. Auch für Frauen und queere Menschen. Zudem müssen die Zulassungsbedingungen zu den Ämtern ändern. Und noch immer ist es ein Tabu, über Sexualität zu sprechen. Das müssen wir angehen.
Auch die Landeskirche muss sich an der Nase nehmen: Sie hätte genauer hinschauen müssen.
Ja. Als staatskirchenrechtliche Anstellungsbehörde tragen wir eine Mitverantwortung. Dies zeigt die Studie. Man hat Leute wieder angestellt, von denen man wusste, dass sie verurteilt worden waren.
In den letzten Jahren hat sich das Bewusstsein für das Thema Nähe-Distanz geändert. Es gibt Weiterbildungskurse, man spricht es bei Anstellungen an, fragt beim früheren Arbeitgeber nach. Aber es braucht mehr. Das Personalwesen muss zwingend professionalisiert werden. Auch das ist Teil der beschlossenen Massnahmen der drei kirchlichen Organisationen.
Das Gespräch führte Mirjam Breu.