Nicht nur junge Turnerinnen, auch Turner trainieren viel für ihren grossen Traum, wie etwa im Regionalen Leistungszentrum im zürcherischen Rümlang. Erst kürzlich hat der Zürcher Turnverband (ZTV) den Cheftrainer entlassen. Mitte Mai 2023, wegen «unüberbrückbarer Differenzen».
Ethische Vorbehalte oder Verstösse waren gemäss ZTV nicht der Grund. Wie Recherchen von SRF News zeigen, gibt es aber Hinweise darauf, dass in der Trainingshalle nicht alles zum Besten stand.
Ärztliche Anweisungen gemäss Turner missachtet
Erstmals spricht ein Turner darüber, dass er über längere Zeit vom ehemaligen Cheftrainer in Rümlang gedemütigt und gemobbt worden sei. Er habe unter Depressionen und Panikattacken gelitten, Suizidgedanken gehabt. Er sagt, ärztliche Anweisungen seien vom Trainer missachtet worden.
«Wenn du vom Arzt für zum Beispiel acht Wochen freigestellt wurdest, dann musstest du, kaum war der Gips weg, schon wieder ans Gerät – egal, wie grosse Schmerzen du hattest. Es hiess dann: Sei kein Weichei, jeder kann auf die Zähne beissen.»
Von einer «Angstkultur» ist die Rede, auch in einem Protokoll des ZTV vom Herbst 2021. Damals gab es einen «offenen Austausch» zwischen dem Zürcher Turnverband und besorgten Eltern. Sie äusserten Kritik am damaligen Cheftrainer. Die Turner hätten Angst, dass sie bestraft würden. Die Turner hätten teils Angst, dass, wenn sich Eltern mit dem Cheftrainer austauschen würden, dies dann wiederum negative Auswirkungen auf sie haben könnte.
Wenn man als Eltern etwas kritisch anmerkte, dann wusste man, dass der Sohn das beim nächsten Training büssen musste.
Die Mutter eines Turners bestätigt gegenüber SRF News: «Wenn man als Eltern etwas kritisch anmerkte, dann wusste man, dass der Sohn das beim nächsten Training büssen musste. Der Cheftrainer liess das die Turner subtil spüren – beachtete sie nicht mehr oder machte sie verbal fertig. Deshalb waren dann alle sehr ruhig und sagten nichts mehr. Er kann seine Macht knallhart ausspielen. Mag er jemanden nicht, lässt er ihn links liegen.»
Trainer bestreitet die Vorwürfe
Der ehemalige Cheftrainer schreibt zu den Vorwürfen auf Anfrage, dass er in seiner langjährigen Berufstätigkeit nie damit konfrontiert worden sei, sich ethisch fehlerhaft verhalten zu haben.
Und weiter: «Trotz aller Leistungsansprüche dürfen bestimmte Aspekte keinesfalls aus den Augen verloren werden. So habe ich immer auf die Gesundheit der Athleten geachtet. Sowohl die physische als auch die psychische Gesundheit eines Athleten musste allen Leistungsansprüchen vorgehen. Dass ich mir bekannte medizinische Atteste missachtet haben soll, bei einer Verletzung unangemessene Leistungen verlangt haben soll sowie eine Kultur von Angst, Erniedrigung, Mobbing und Machtmissbrauch geschaffen und gepflegt haben soll, sind unhaltbare Verdächtigungen, die nicht zutreffend sind. Ich verwehre mich gegen solche Anschuldigungen.»
STV mit Background-Checks bei Trainern
Seit diesem Monat ist der entlassene Cheftrainer nun beim Schweizerischen Turnverband STV angestellt. Er besetzt eine neu geschaffene Stelle und arbeitet als nationaler Sichtungstrainer U12 Kunstturnen Männer. Der STV hatte offenbar keine Bedenken, er schreibt auf Anfrage von SRF News: «Bei der Besetzung von Trainerstellen für den STV werden seit Anfang 2022 standardisiert Background-Checks bei den entsprechenden Institutionen, namentlich der Gymnastics Ethics Foundation und der Ethikkommission STV, vorgenommen.»
Auch Swiss Sport Integrity, die nationale Meldestelle für Ethik-Verstösse, kurz SSI, war in diesen Prozess involviert. Beim ehemaligen Cheftrainer seien diese Checks «allesamt mit positivem Resultat und grünem Licht» gewesen, schreibt der STV. Einer Anstellung stand aus Sicht des STV also nichts im Weg.
Mehrere Meldungen bei SSI eingegangen
Pikant: Bei SSI laufen im Moment offenbar keine Verfahren gegen den ehemaligen Cheftrainer, die dem STV hätten gemeldet werden müssen. Bei SSI ist er aber dennoch Thema. Es seien mehrere Meldungen eingegangen. SSI schreibt: «Die Beurteilung des Sachverhalts ist aktuell Gegenstand von Abklärungen.» In einem solchen Stadium müssen Sportverbände nicht informiert werden. Ob der STV dennoch davon Kenntnis hatte, bleibt unklar.
Für Peter G. Kirchschläger, Ethik-Professor an der Universität Luzern, ist klar: «Ganz grundsätzlich ist es in so einer Situation wichtig, dass sich ein Verband bewusst ist, wo er die Prioritäten setzt. Und er muss die Prioritäten klar beim Schutz von Kindern und Jugendlichen setzen. Das kann auch bedeuten, dass man einen Personalentscheid herauszögern muss, bis alles geklärt ist. Wenn ich einen eigenen Wertekatalog ethischer Natur habe, dann kann ich mich an dem orientieren und dann treffe ich die richtige Entscheidung.»
Auch heute kann ich nicht in die Halle zurück, ich könnte nicht nach Rümlang fahren, ich schaffe es nicht mal in die Nähe der Halle.
Der Turner, der sich gegenüber SRF News erstmals öffentlich äussert, hat die Depressionen und Panikattacken überwunden. Geblieben sei das Gefühl, minderwertig zu sein. Und er sagt: «Auch heute kann ich nicht in die Halle zurück, ich könnte nicht nach Rümlang fahren, ich schaffe es nicht mal in die Nähe der Halle.»