Die Fälle häufen sich: Seit Anfang Jahr werden mehr Minderjährige festgenommen, weil sie über Anschlagspläne gesprochen haben sollen. Im jüngsten Fall sollen Jugendliche einen Anschlag auf die Pride in Zürich geplant haben. Dass diese Absichten ernst genommen werden müssen, zeigt der bundesrätliche Bericht zur Bedrohungslage in der Schweiz. Darin ist die Rede von einer «neuen Dynamik» in IS-Netzwerken. Zudem gebe es auch Fälle junger Personen im rechtsextremen Bereich, die Terrorakte geplant hätten. Der forensische Psychologe Jérôme Endrass erklärt, wie man gegen die Radikalisierung von Jugendlichen vorgeht.
SRF: Wieso werden mehr Fälle von jugendlichen Radikalisierten bekannt?
Jérôme Endrass: Wir sehen immer Fälle von radikalisierten Jugendlichen. Es gibt Wellenbewegungen, in denen es Momente gibt, wo dies mehr oder weniger Konjunktur hat. Ausserdem spielt die geopolitische Situation eine grosse Rolle.
Wie würden Sie die aktuelle Lage beschreiben?
Insgesamt ist es nicht viel anders als sonst. Es gibt immer Jugendliche oder junge Erwachsene, die eine hohe Gewaltbereitschaft aufweisen. Was sich bei geopolitischen Krisen ändert, ist, dass diese einen neuen Vorwand finden, um ihrer Aggression freien Lauf zu lassen.
Was ist der Kern des Problems?
Es gibt einen Sockel von gewaltbereiten Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Wenn es gesellschaftliche oder geopolitische Krisen gibt, können diese für einige Auslöser sein, die Schwelle zur Gewalt zu überschreiten.
Im Moment sehen wir wieder ein Aufkommen von linksextremen Tendenzen.
Welche Rolle spielt die Ideologie?
Sie gibt die Richtung vor. Es ist klarer, mit welcher Rechtfertigung gegen wen vorgegangen wird. Die Ideologie ist aber nicht der Grund dafür, dass Jugendliche überhaupt gewalttätig in Erscheinung treten.
Muss man sich also gar nicht um ideologische Radikalisierung kümmern?
Natürlich spielt es eine Rolle, welche Rechtfertigung gerade bei den Jugendlichen gewissermassen in ist. Das zeigt uns auch, welche Personengruppen eher geschützt werden müssen und wie die Präventionsmassnahmen spezifischer ausschauen sollten.
Was ist denn gerade in?
Im Moment sehen wir zum einen wieder ein Aufkommen von linksextremen Tendenzen. Noch bis vor wenigen Monaten war das Rechtsextreme stark am Kommen – im Zuge dieser Staatsverweigerer-Geschichte. Dann gibt es immer wieder islamistische Tendenzen, die uns stark beschäftigen. Und es gibt noch die sogenannten Brückenideologien. Das sind Narrative, die alle drei Gruppen gewissermassen mobilisieren können.
Social-Media-Inhalte spielen eine untergeordnete Rolle
Was wäre das?
Das ist der klassische Antisemitismus, wo man eine Möglichkeit sieht, dass junge Linksextreme, Rechtsextreme und Islamisten mobilisiert werden können.
Welchen Stellenwert hat Social Media?
Social Media stellt das Hintergrundrauschen. Man sieht, in welche Richtung die Narrative gehen. Was uns als Forensiker interessiert, ist: Wer ist bereit, die Handlungsschwelle zur Gewalt zu überschreiten? Da spielen Social-Media-Inhalte eine untergeordnete Rolle. Das heisst nicht, dass sie irrelevant wären, aber sie sind nicht matchentscheidend: Das ist das soziale Umfeld.
Was sind die wichtigsten Dinge bei der Prävention?
Die Prävention muss in der realen Welt passieren. Das wird unterschätzt. Der wichtigste Hebel, um Gewalt zu verhindern, ist die Einwirkung auf die Leute in der realen Welt. Oder: Gute Schulsozialarbeit verhindert schwere Gewalt in der Zukunft.
Das Gespräch führte Daniel Glaus.