Der Bundesrat ist besorgt über die epidemiologische Entwicklung in den vergangenen Tagen und macht Druck auf die Kantone. Diese müssten noch andere Massnahmen ergreifen, sagt Bundesrat Alain Berset im Interview zum Tag.
SRF News: Herr Bundesrat Berset, die Infektionszahlen sinken nicht wie gewünscht. Haben Sie eine einfache Erklärung dafür?
Alain Berset: Schwierig zu sagen. Wir sehen einfach eine asymmetrische Entwicklung im Land. Es gibt nach wie vor eine starke Abnahme in der Romandie, wo einschneidende Massnahmen getroffen worden sind. Parallel dazu steigen die Zahlen in einigen Deutschschweizer Kantonen wieder. Dadurch stagniert die Situation auf einem sehr hohem Niveau.
Sie haben heute weitere Massnahmen, vor allem Empfehlungen verabschiedet. Zeigt die Entwicklung der Fallzahlen nicht, dass die Selbstverantwortung schlecht funktioniert?
Ja, ich finde, die Leute haben sehr wahrscheinlich den Eindruck, die zweite Welle sei hinter uns. Das ist aber überhaupt nicht der Fall. Die Zahlen sind viel höher als in der ersten Welle: Nach wie vor 5000 Ansteckungen pro Tag! Das ist überhaupt nicht okay. Wir müssen das runterbringen. Sonst könnten die nächsten Zeiten ziemlich instabil sein. Deswegen ist es auch notwendig, dass weitere Kantone noch zusätliche Massnahmen ergreifen.
Nach wie vor 5000 Ansteckungen pro Tag! Das ist überhaupt nicht okay.
Aber dieser Schweizer Weg, dieser Mittelweg von Massnahmen und Selbstverantwortung. Glauben Sie wirklich noch an diesen Weg?
Ich hoffe, dass es weiterhin funktioniert. Es ist der einzige Weg, der es uns erlaubt, weiterhin zu leben, ohne dass alles zugeht wie in den umliegenden Ländern. Wenn man aber diesen Schweizer Weg will, ist das verbunden mit sehr viel Vernunft und Eigenverantwortung.
Jetzt sollen es die Kantone richten, an die Sie heute appelliert haben. Sie haben gesagt, wenn ihr nicht handelt, dann handeln wir. Drohen Sie den Kantonen?
Nein, nie. Wir müssen am gleichen Strang ziehen. Wenn wir wollen, dass der Monat Dezember keine Katastrophe wird, dass wir Weihnachtseinkäufe machen können, dass wir auch die Festtage mit einer einigermassen guten Situation erleben können, dann braucht es in gewissen Kantonen mehr Massnahmen. Wir erwarten darum von den Kantonen, dass sie etwas tun. Wir müssen als Bundesrat auch für die gesamte Schweiz schauen.
Wir erwarten darum von den Kantonen, dass sie etwas tun.
Haben Sie das Vertrauen in die Kantone verloren, wenn Sie so öffentlich drohen?
Nein, aber ich glaube, es gibt 26 unterschiedliche Realitäten und damit auch eine andere Sicht auf die Situation. Deswegen diese Gespräche und die Appelle an die Kantone, zu handeln. Es gehört dazu, dass man das sagt, auch weil wir jetzt sehen, dass die Situation viel schlechter ist als was wir noch vor einer Woche erwartet hätten.
Der Bundesrat stand unter grossem Druck aus dem Ausland, aber auch aus dem Inland wegen der Skigebiete. Gebeugt haben Sie sich nur dem inländischen Druck.
Das kann man immer diskutieren [lacht]. Man denkt, dass der Bundesrat immer unter Druck von hier oder da entscheidet. Es ist nicht so. Was uns im Bundesrat interessiert: welcher Weg gut für die Schweiz ist. Eine gewisse Vorhersehbarkeit zu haben, ohne fahrlässig zu sein oder im Januar einen Lockdown zu riskieren, aber auch nicht einfach alles zu schliessen.
Was uns im Bundesrat interessiert: welcher Weg gut für die Schweiz ist.
Aber indem Sie Skigebiete offen lassen oder nicht einschränken, riskieren Sie damit nicht, dass wir dann doch am Schluss einen Lockdown haben?
Die Einschränkungen auf zwei Drittel der Kapazität in allen geschlossenen Verkehrsmitteln in den Skigebieten, das ist eine ziemlich starke Einschränkung.
Sie wollten sogar weiter gehen.
Ja, wir dachten auch an eine Begrenzung für die Skigebiete generell. Das wäre sehr bürokratisch umzusetzen gewesen. Nun haben wir aber die sehr starken Schutzkonzepte und eine Bewilligungspflicht mit dem Risiko, dass eine Bewilligung eben auch wieder entzogen werden kann.
Das Gespräch führte Gion-Duri Vincenz.