Im Jahr 2021 gaben 60 Prozent aller Sozialhilfebezügerinnen und -bezüger hierzulande an, Schulden zu haben. Das sind rund 160'000 Personen.
Wer in der Schweiz Sozialhilfe bezieht – und gleichzeitig verschuldet ist, findet kaum mehr den Weg aus der finanziellen Abhängigkeit vom Staat. Das zeigt eine neue Nationalfonds-Studie der Fachhochschule Nordwestschweiz.
Raus aus der Sozialhilfe lohnt sich nicht
Über tausend Fragebögen und dutzende Interviews hat Schuldenforscher Christoph Mattes mit seinem Team für die Studie ausgewertet: «Wir haben mit ganz unterschiedlichen Menschen gesprochen – mit Alleinstehenden, Alleinerziehenden oder Familien mit Kindern». Alle beschreiben die gleiche Problematik: «Immer wenn sie neue Anläufe gestartet haben, das Leben in den Griff zu kriegen, wurden sie zurückgeworfen».
Das Leben mit Sozialhilfe sei zwar eine grosse Belastung. Aber der Schritt aus der Sozialhilfe sei die noch Grössere und lohne sich schlicht nicht. «Denn in dem Moment kommen wieder das Betreibungsamt und die Gläubiger, und betreiben die Betroffenen. Dann sind sie wieder auf einem Existenzminimum, was sehr ähnlich zu dem ist, was die Sozialhilfe bezahlt», berichtet Mattes.
Die Schuldenspirale dreht weiter
Zuerst Betreibung, dann Pfändung – und die Leute landen wieder in der Sozialhilfe. Ihr Hauptgläubiger ist dabei der Staat, denn die meisten Schulden fallen bei den Steuern und den Krankenversicherungen an. Somit zahlt der Staat Sozialhilfe und ist gleichzeitig ein Grund, weshalb die Betroffenen nicht aus der Schuldenspirale herauskommen.
Das führt zu einer gegenseitigen Verständigung, dass man an der Situation jetzt nichts ändern kann.
Den Sozialdiensten sei das Problem seit langem bekannt, sagt Mattes. Nur gebe es keine Lösung: «Das führt zu einer gegenseitigen Verständigung, dass man an der Situation jetzt nichts ändern kann und somit bleibt es bei einem dauerhaften Sozialhilfebezug».
Braucht es ein Entschuldungsverfahren in der Schweiz?
Eine ausweglose Situation, für die die Schweiz schon mehrfach international gerügt wurde. In den meisten europäischen Ländern gibt es Entschuldungsverfahren speziell für finanziell schlechter gestellte, hoch verschuldete Personen. «Es ist höchste Zeit dafür bei uns», sagt Beat Flach, Nationalrat der Grünliberalen und Jurist, «Die Beispiele aus anderen Ländern zeigen, dass das nicht unmöglich und auch sinnvoll ist.»
Es ist für alle eine Win-win-Situation – für die verschuldeten Personen, den Staat und die privaten Gläubiger.
Flach hat vor vier Jahren den Bundesrat aufgefordert, verschiedene Entschuldungsverfahren zu prüfen. Mit Erfolg: Diesen Sommer hat der Bundesrat einen Gesetzesentwurf vorgelegt, für eine sogenannte Restschuldbefreiung. Hoch verschuldete Personen müssen für eine gewisse Zeit – der Bundesrat schlägt vier Jahre vor – mit dem Existenzminimum leben und gleichzeitig alles dafür tun, um Geld zu verdienen. Dieses wird dann den Gläubigern weitergegeben, dafür werden nach den vier Jahren die Schulden erlassen.
Vorteile für alle
«Es ist für alle eine Win-win-Situation – für die Person, die aus der Schuldenspirale herauskommt», argumentiert Flach. Für den Staat sei es besser, weil er weniger lang Sozialhilfe auszahlen müsse und private Gläubiger würden so zumindest einen Teil des Schuldengeldes zurückerhalten. Auch Schuldenforscher Mattes ist überzeugt: «Das wäre eine sehr gute Lösung. Vorausgesetzt, dass die Regeln so sind, dass Armutsbetroffene sie einhalten können.»
Das heisst: keine zusätzlichen Verfahrenskosten und keine zu lange Verfahrensfrist. Gerade bei diesen zwei Punkten aber haben mehrere Branchenverbände bereits Widerstand angekündigt.