Am 24. Mai 1987 trafen sich die Delegierten der Mädchen- und der Bubenpfadi zu separaten Versammlungen. Beide Seiten stimmten über das vorher ausgehandelte «Fusionspaket» ab. Dieses war von der 20-köpfigen Fusionskommission bestehend aus zehn Frauen und zehn Männern über mehrere Jahre ausgehandelt worden und es hatte bereits zwei Vernehmlassungen dazu gegeben.
1987 sagten nun beide Seiten «Ja» zur Fusion und die «Pfadibewegung Schweiz» (PBS) entstand. Die Zustimmung zu diesem Zusammenschluss war besonders der Mädchenpfadi nicht leichtgefallen.
Die Pfadi war damals der einzige Ort, wo Frauen und Mädchen Führungsaufgaben und Verantwortung übernehmen konnten.
«Ich hatte auch zwei Herzen in meiner Brust», erinnert sich die 57-jährige Sandra Maissen, die damals als junge Leiterin an der Delegiertenversammlung der Pfadfinderinnen in Luzern dabei war. «Rational wusste ich, die Fusion nach den Bedingungen des ‹Fusionspakets› ist eine gute Lösung, emotional konnte ich die Bedenken und Ängste der Gegnerinnen der Fusion aber durchaus nachvollziehen.»
Die Bedenken der Pfadfinderinnen
Für die Pfadfinderinnen sei es eine sehr emotionale Delegiertenversammlung gewesen, erzählt Maissen weiter: «Wir mussten eine fatale Entscheidung fällen: Bleiben wir lieber klein aber fein oder lassen wir uns auf etwas Neues ein?»
Zahlenmässig war der Bund Schweizerischer Pfadfinderinnen (BSP) mit 17'000 Mitgliedern deutlich kleiner als der Schweizerische Pfadfinderbund (SPB) mit 40'000 Mitgliedern. Viele Pfadfinderinnen befürchteten deshalb, in der neuen fusionierten Pfadibewegung von den zahlenmässig stärkeren Pfadfindern «überrollt» oder «geschluckt» zu werden.
Die 89-jährige Sibyll Kindlimann, welche die Delegation der Pfadfinderinnen bei den Fusionsverhandlungen anführte, erinnert sich noch gut an diese Befürchtungen. «Wenn Vertreterinnen des Mädchenbundes und Vertreter des Bubenbundes in den Jahren vor der Fusion zusammenkamen, um gemeinsame Anliegen zu diskutieren, sagten die männlichen Vertreter jeweils sofort zu uns Frauen: ‹Wir sehen das so und so, ihr seid doch sicher einverstanden, oder?›»
Die Befürchtungen, dass Frauen mit der Fusion an Einfluss verlieren könnten, seien also auch ein Zeichen der Zeit gewesen, darin sind sich Sibyll Kindlimann und Sandra Maissen einig. Schliesslich hätte es den Gleichstellungsartikel (1981) noch nicht lange gegeben.
Frauen seien gesellschaftlich in Führungspositionen kaum vertreten gewesen. Gerade deshalb sei die Mädchenpfadi ein wichtiger Ort für die selbstbestimmte Entwicklung junger Frauen gewesen, so Maissen. Kindlimann fügt an: «Die Pfadi war damals der einzige Ort, wo Frauen und Mädchen Führungsaufgaben und Verantwortung übernehmen konnten.» Und genau diesen Ort drohten die Pfadfinderinnen durch die Fusion nun zu verlieren.
Verhandlungsstarke Pfadfinderinnen
Die Pfadfinderinnen hatten allerdings vorgesorgt. Die zehn Vertreterinnen des Mädchenbundes in der Fusionskommission setzten sich erfolgreich dafür ein, dass im «Fusionspaket» verschiedene Punkte verankert wurden, welche die gleichberechtigte Mitwirkung der Frauen in der fusionierten Pfadibewegung sicherstellen sollten.
Der Bubenverband nahm die Fusionsverhandlungen weniger ernst als der Mädchenverband.
Erstens sollten sämtliche Schlüsselpositionen auf Schweizer Ebene mit Co-Leitungen bestehend aus einem Mann und einer Frau besetzt werden. Zweitens forderten die Pfadfinderinnen für die wichtigen Entscheidungsgremien auf Schweizer Ebene, wie etwa der Bundesleitung, eine Quotenregelung bezüglich Geschlecht sowie Sprache. Drittens verlangte der Mädchenbund, dass bei wichtigen Entscheidungen beispielsweise in der Delegiertenversammlung eine «doppelte Mehrheit», also ein «Ja» der weiblichen Mitglieder und ein «Ja» der männlichen Mitglieder eingefordert werden konnte.
Die starke Verhandlungsführung der Pfadfinderinnen blieb auch dem heute 69-jährigen Rolf Steiner in Erinnerung, der 1987 das Amt des obersten Pfadfinders der Schweiz (Bundesfeldmeister) innehatte. «Der Bubenverband nahm die Verhandlungen weniger ernst als der Mädchenverband.»
Die Frauen waren gut organisiert und vorbereitet. In der Fusionskommission, die das «Fusionspaket» ausgearbeitet hatte, war es nicht der Verhandlungsführer der Pfadfinder gewesen, der den Verlauf der Verhandlungen bestimmte, sondern Sibyll Kindlimann, die Verhandlungsführerin der Pfadfinderinnen», so Steiner.
Mit der Fusion wollte man nicht den Pfadialltag von Mädchen und Buben umkrempeln, sondern Rahmenbedingungen schaffen, um die Zusammenarbeit beider Seiten zu fördern.
Alle drei Forderungen des Mädchenverbandes wurden mit der Annahme des «Fusionspakets» gutgeheissen und an der ersten gemeinsamen Delegiertenversammlung im Oktober 1987 in den Statuten der heutigen Pfadibewegung Schweiz verankert. Punkto Gleichstellung waren die Statuten der Pfadibewegung vorbildlich. Dies anerkannte auch die Eidgenössische Kommission für Frauenfragen, die der Pfadibewegung 1987 zu ihren modellhaften Statuten gratulierte.
Fusioniert – wie weiter im Pfadialltag?
Obwohl sich durch die neue Organisation auf Bundesebene alles änderte, waren die Veränderungen für die meisten Pfadis im Alltag kaum spürbar. Das sei auch nicht das Ziel gewesen, erklärt Rolf Steiner. «Mit der Fusion wollte man nicht den Pfadialltag von Mädchen und Buben umkrempeln, sondern Rahmenbedingungen schaffen, um die Zusammenarbeit beider Seiten zu fördern.»
Die Fusion bedeutete auch nicht, dass bisher geschlechtergetrennte Pfadigruppen nun gemischt wurden. «Die Aktivitäten von Kindern und Jugendlichen im Wald am Samstagnachmittag veränderten sich kaum. Bis heute gibt es verschiedene organisatorische Formate», ergänzt Sandra Maissen.
Die Entscheidung, Pfadigruppen nach Geschlecht zu trennen oder Aktivitäten gemeinsam durchzuführen, blieb den lokalen Pfadiabteilungen überlassen. Nun kann man sich fragen: Wenn die Fusion des Mädchen- und des Bubenverbands kaum Einfluss auf den Pfadialltag der meisten Pfadfinderinnen und Pfadfinder hatte, warum entschieden sich die beiden Verbände überhaupt für den Zusammenschluss?
Anstoss zur Fusion kam aus dem Pfadialltag
Aus Sicht der Bubenpfadi sei der Anstoss zur Fusion von der Basis gekommen, erinnert sich Rolf Steiner. Lokale Pfadigruppen hätten in den 70er-Jahren begonnen, Pfadiübungen oder Pfadilager durchzuführen, an denen Mädchen und Jungen teilnahmen. Erste gemischte Pfadigruppen stellten die Organisationen vor ungelöste Fragen und Probleme. «Die Verantwortlichen auf Bundesebene sahen, dass da etwas passiert und dass ihnen das möglicherweise entgleitet. Darauf reagierten sie und kamen zur Einsicht, dass eine gemeinsame Pfadibewegung die beste Lösung ist.»
Für die Mädchenpfadi habe ein gewisser Zugzwang bestanden, sich mit einer möglichen Fusion auseinanderzusetzen, fügt Sandra Maissen hinzu. Oft sei es nämlich so gewesen, dass Mädchen sich den Pfadiübungen der Bubenpfadi anschlossen und nicht umgekehrt. «Der Bubenbund stellte die Möglichkeit in den Raum, seine Pfadiaktivitäten vollständig auch für Mädchen zu öffnen. So entstand ein gewisser Druck, unter dem sich der Mädchenverband entschloss, sich auf den Fusionsprozess einzulassen. Eben auch, um sicherzugehen, dass die Mädchenpfadi nicht einfach von der Bubenpfadi ‹geschluckt› wird.»
Hinzu kam, dass seit den 70er-Jahren in gewissen Bereichen schon eine Zusammenarbeit zwischen den beiden Pfadibünden bestand. Dies weil sich eine Zweigleisigkeit einfach nicht lohnte, so Sibyll Kindlimann. Beispiele für solche Kooperationen seien etwa die Zusammenlegung der Zeitschriften der beiden Pfadibünde zu einer gemeinsamen Publikation gewesen.
Auch bei der Ausbildung der Leiterinnen und Leiter gab es bereits vor der Fusion eine Zusammenarbeit, um den Aufwand und die Kosten für beide Seiten zu reduzieren. 1980 fand ausserdem das erste gemeinsame Bundeslager der Mädchen- und der Bubenpfadi im Greyerzerland statt. «So konnten beide Seiten auch Erfahrungen darin sammeln, was es heisst, auf die Anliegen der anderen Seite einzugehen», erzählt Sibyll Kindlimann.
Die Entstehung der Pfadibewegung Schweiz war also auch eine Reaktion auf Veränderungen, die in lokalen Pfadigruppen angestossen worden waren. Mit einer Fusion auf Bundesebene sollten Rahmenbedingungen geschaffen werden, die von beiden Bünden unterstützt wurden. Welche Pfadiaktivitäten nach 1987 gemeinsam oder nach Geschlechtern getrennt durchgeführt wurden, hing stark von den jeweiligen Gruppen und Abteilungen ab. Das ist bis heute so.
Was Pfadis heute zur Frage der Geschlechtertrennung sagen
Wie stehen aktive Pfadfinderinnen und Pfadfinder heute zu den Fragen, die sich bei der Fusion in den 80er-Jahren stellten? Ein Besuch bei den Pfadileiterinnen und Pfadileiter der Abteilung Hadlaub in Zürich gibt einen Eindruck.
Hadlaub ist seit Jahrzehnten eine gemischte Abteilung. Vor 2019 gab es auf der Pfadistufe (11-15 Jährige) noch geschlechtergetrennte Gruppen. Seit 2019 sind alle Stufen (Biber, Wölfe, Pfadis und Rover) und Aktivitäten gemischt. Leitungsfunktionen übernehmen alle Geschlechter. Der Grund für die Zusammenlegung der letzten noch geschlechtergetrennten Gruppen war ein praktischer: schwindende Mitgliederzahlen.
Ein Wechsel zurück sei heute nicht mehr denkbar, so der 20-jährige Mathis Eugster: «Wir Leitenden sind uns einig, dass die gemischte Organisation besser ist. Auch von den Teilnehmenden werden gemeinsame Aktivitäten gewünscht.»
Vorteile sehen die Leitenden darin, dass die Kinder und Jugendlichen einerseits mehr unterschiedliche Vorbilder haben. Andererseits stünde den Teilnehmenden auch eine grössere Vielfalt an Aktivitäten offen, erzählt die 18-jährige Helena Auchli: «Als wir noch geschlechtergetrennte Gruppen hatten, machten wir auch eher stereotype Aktivitäten, spielten also Fussball mit den Jungen und backten mit den Mädchen. Seit dem Zusammenschluss merken wir: Eigentlich haben Mädchen und Jungen viel mehr gleiche Interessen, als man denkt.»
Leiterkollege Mathis Eugster fügt ein Beispiel an: «Als Bub habe ich in der Pfadi nie Freundschaftsbänder geknüpft. Ich dachte damals, das sei Mädchenkram. Heute mache ich das in jedem Pfadilager und es machen Mädchen und Buben mit.»
Bei gemischten Pfadilagern gibt es einiges zu beachten. «Gemischte Leiterteams sind von der Pfadi vorgeschrieben, damit die Kinder eine Ansprechperson ihres Geschlechts haben», sagt der 23-jährige Jonathan Landolt. Auch die Schlafplätze werden in der Regel nach Geschlecht getrennt, oft ergebe sich das sogar von selbst.
Antonia Martinelli erzählt von einer Erfahrung als 21-jährige Leiterin bei den Wölfen: «Wenn wir sagen: ‹Diese beiden Massenschläge sind frei, legt eure Rucksäcke auf das Bett, das ihr gerne möchtet›, teilen sich die Kinder meist automatisch nach Geschlechtern auf.»
Als Bub habe ich in der Pfadi nie Freundschaftsbänder geknüpft. Ich dachte damals, das sei Mädchenkram.
Auch die Frage der Co-Leitungen beschäftigt die Pfadfinderinnen und Pfadfinder heute noch. Jonathan Landolt, Co-Leiter der Abteilung Hadlaub teilt sich sein Amt mit einer Kollegin und sagt dazu: «Wir setzen bewusst auf Co-Leitungen. Ich finde den Austausch von zwei Seiten wichtig und bin grundsätzlich der Ansicht je diverser ein Leitungsteam, desto besser.»
Ganz ohne Stereotypisierung kommt aber auch die heutige Pfadi nicht aus, wie eine Erfahrung von Antonia Martinelli aus einem abteilungsübergreifenden Ausbildungslager zur Pfadileiterin zeigt: «Ich bin eine laute und lebendige Person und musste mir dafür schon viel Kritik anhören. Wenn männliche Kollegen sich ähnlich verhalten, sind die Reaktionen viel weniger stark. Das beschäftigt mich schon sehr.»