Am Mittwoch hat der Bundesrat die Lockerung mehrerer Corona-Massnahmen beschlossen – trotz steigender Fallzahlen und obwohl vier der fünf Richtwerte, auf deren Grundlage der Entscheid unter anderem gefällt werden sollte, nicht erfüllt waren. Welchen Sinn diese Richtwerte dann noch ergeben und was die Lockerungen für die Glaubwürdigkeit der Regierung bedeuten, schätzt der Politologe Marc Bühlmann ein.
SRF News: Obwohl vier der fünf Richtwerte am Mittwoch nicht erfüllt waren, gab der Bundesrat mehrere Lockerungen bekannt. Da stellt sich die Frage: Wozu braucht es diese Richtwerte?
Marc Bühlmann: So funktioniert Politik. Man braucht einen Entscheid, aber dieser Entscheid kann nie richtig sein. Hätte der Bundesrat keine Lockerungen oder sogar Verschärfungen beschlossen, hätte es sicher auch Diskussionen gegeben. Egal, wie der Entscheid ausfällt und wie er begründet wird – es gibt immer Kritik. Das gehört zur Politik. Diese hat dann unterschiedliche Möglichkeiten, Begründungen für einen Entscheid zu suchen. Eine davon ist die «Wissenschaftlichkeit».
Und dazu dienen die Richtwerte?
Genau. Die Richtwerte sorgen für einen wissenschaftlichen Touch, der den Entscheid glaubwürdig machen soll. Wir haben jedoch ein naives Bild von Wissenschaft, wenn wir glauben, die Wissenschaft könne uns Richtwerte geben, an die wir uns halten können und die uns sagen: Was ist richtig, was ist falsch?
Ob der Entscheid richtig oder falsch ist, kann niemand sagen.
Alain Berset hat ja auch gesagt, dass diese Richtwerte nicht sakrosankt sind. Es war schlau, das zu sagen. Der Entscheid jetzt ist, wie jeder politische Entscheid, verschiedenen Kräften zu verdanken, man kann da auch von Lobbying reden. Er ist ein Kompromiss, der innerhalb dieses Siebener-Gremiums gefällt wurde. Ob er richtig oder falsch ist, kann niemand sagen.
Auch wenn die Richtwerte nicht sakrosankt, also unantastbar, sind: Hat der Entscheid des Bundesrats Auswirkungen auf seine Glaubwürdigkeit?
Die Glaubwürdigkeit leidet sowieso – egal, wie der Bundesrat entschieden hätte. Mit jedem politischen Entscheid macht er sich immer auch angreifbar. Das gehört zur Politik. Vor rund einem Monat hiess es, vielleicht könne man in einem Monat öffnen. Viele Interessenverbände sagen schon lange, man müsse öffnen. Wenn der Bundesrat am Mittwoch entschieden hätte, dass alles zu bleibt, hätte er aufseiten der Öffnungsbefürworter seine Glaubwürdigkeit verloren. Hätte der Bundesrat härtere Massnahmen beschlossen, hätten viele Menschen gesagt: «Das geht gar nicht.» Hätte es hingegen noch weitergehende Öffnungen gegeben, wären noch viel mehr Kritiker zu Wort gekommen.
Wovon hat der Bundesrat sich leiten lassen? Vom Druck der Wirtschaft, vom Unmut der Bevölkerung?
Ist dieser Unmut der Bevölkerung tatsächlich da? Man liest darüber viel in den Medien, man sieht die Jungen auf der Strasse, aber der grosse Teil der Bevölkerung schickt sich in die Regeln. Natürlich findet die niemand gut, aber der Unmut ist nicht riesig. Das ist das Schwierige in der Politik: Es gibt viele unterschiedliche Positionen. Manche Leute haben nach wie vor Angst und möchten, dass man sie schützt.
Das Wunderbare an unserem System ist, dass die wichtigsten politischen Kräfte einen Kompromiss finden müssen.
Das Wunderbare an unserem System ist, dass nicht nur eine Partei entscheidet, sondern dass sich die wichtigsten politischen Kräfte zusammenfinden und einen Kompromiss finden müssen. Der jetzige Kompromiss ist, plakativ gesagt, eher in Richtung Wirtschaft als in Richtung Gesundheit ausgefallen, was bei einem eher bürgerlich-konservativen Bundesrat auch erwartbar ist.
Das Gespräch führte Mareike Rehberg.