Es herrscht eine prekäre Flüchtlingssituation in der Schweiz vor. Die Flüchtlingsströme bringen den Bund an seine Kapazitätsgrenzen.
Zum einen ist da der Ukraine-Krieg. Seit dessen Beginn hat die Schweiz insgesamt rund 70'000 Geflüchtete aus der Ukraine aufgenommen. Zum anderen steigen seit August die Asylgesuche aus anderen Ländern – vor allem aus der Türkei, wie das Staatssekretariat für Migration SEM bekannt gab. Warum nehmen gerade türkische Asylgesuche zurzeit wieder stark zu?
«Das muss man etwas relativieren», sagt Adrian Schuster, Länderexperte der Schweizerischen Flüchtlingshilfe und Spezialist auf dem Gebiet der Türkei. Die Türkei sei schon seit Jahren unter den Herkunftsländern mit den meisten Asylgesuchen in der Schweiz vertreten.
Menschenrechtslage, Pandemie, steigende Preise
Auch das Staatssekretariat für Migration beobachtet seit dem gescheiterten Putschversuch in der Türkei im Jahr 2016 einen kontinuierlichen Anstieg der Zahl türkischer Asylgesuche, wie es auf Anfrage schriftlich mitteilt.
Laut Schuster sei der Grund seit Jahren derselbe. «Die menschenrechtliche Lage in der Türkei ist sehr schlecht. Es herrscht Repression gegen oppositionelle und kritische Stimmen», sagt Schuster.
Das SEM ergänzt noch zwei weitere Gründe: «Die Pandemie und die steigenden Nahrungsmittel- und Energiepreise haben die Volkswirtschaften in vielen Herkunftsländern von Asylsuchenden geschwächt, so auch in der Türkei.»
Nicht nur Kurdinnen und Kurden
Bei den Asylsuchenden aus der Türkei handle es sich um Kurdinnen und Kurden, schrieb die Nachrichtenagentur Keystone-SDA am Donnerstag. Das SEM veröffentlicht bis auf die Nationalität keine weiteren Informationen über die Asylsuchenden. Aber es seien nicht nur kurdische Asylsuchende, sagt Schuster.
Eine zweite grosse Gruppe seien mutmassliche und «echte» Angehörige der Gülen-Bewegung. Sie werden von den türkischen Behörden des Putschversuchs von 2016 beschuldigt.
Präsidentschaftswahlen 2023 verschärfen Repression
Nächstes Jahr finden in der Türkei Präsidentschaftswahlen statt. Deshalb habe auch die Repression in der Türkei zugenommen, so Schuster. Ein Beispiel für die jetzige Situation sei die Verhaftung der Popsängerin Gülsen.
Wer der Regierung quer kommt, kann vermehrt in den Fokus der Behörden geraten.
Vier Monate zuvor hatte die türkische Sängerin einen Scherz über religiöse Schulen gemacht. «Die Verhaftung dieser Frau stellt konservative Kreise in der Türkei zufrieden, um Wählerschaft zu gewinnen» – für den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. «Wer der Regierung quer kommt, kann vermehrt in den Fokus der Behörden geraten.»
Werden die Asylanträge aus der Türkei weiter steigen?
Bis zum Wintereinbruch dürften die Asylgesuche türkischer Staatsangehöriger weiter ansteigen, schreibt das SEM. Über den Winter hinaus rechnet die Behörde zuerst mit einem vorübergehenden Rückgang der Gesuche, die im Verlauf des Frühjahrs 2023 wieder ansteigen werden.
«Die längerfristige Entwicklung hängt vom Ausgang der Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ab [...] und von der wirtschaftlichen Entwicklung in der Türkei in den kommenden Monaten und Jahren», schreibt das SEM weiter.