Das türkische Parlament hat ein umstrittenes Gesetz gegen Desinformation verabschiedet. Es sieht für die «Verbreitung von falschen oder irreführenden Nachrichten» Haftstrafen von bis zu viereinhalb Jahren vor. Für den Journalisten Thomas Seibert in Istanbul deutet das Gesetz darauf hin, dass die Türkei auf einen sehr ruppigen Wahlkampf zusteuert.
SRF News: Was verspricht sich Erdogan von dem neuen Desinformationsgesetz?
Thomas Seibert: Es geht um Kontrolle. Nachdem die meisten türkischen Medien bereits auf Regierungslinie sind, sollen jetzt auch die wenigen unabhängigen Medien und die Sozialen Medien der Kontrolle der Regierung unterworfen werden.
Inwiefern verschärft das Gesetz die Situation der bereits stark eingeschränkten Medienfreiheit?
Es fällt vor allem auf, dass die entscheidenden Passagen im Gesetz sehr vage formuliert sind: Unter Strafe steht die «Verbreitung von Falschinformationen, die in der Bevölkerung Sorge, Angst und Panik auslösen» könnten. Was damit gemeint ist, wird die Justiz entscheiden – und sie ist grösstenteils mit regierungstreuen Juristen besetzt.
Die Opposition nennt das Gesetz ein Zensurgesetz im Hinblick auf die Wahlen vom Juni 2023. Ist da etwas dran?
Laut der Regierung geht es angeblich ausschliesslich darum, Desinformation zu bekämpfen, es gehe rein um die nationale Sicherheit, heisst es. Allerdings lassen die vagen Formulierungen im Gesetz sowie die Tatsache, dass für dieses beispielsweise keine Journalistenverbände konsultiert wurden, starke Zweifel aufkommen.
Die Wirtschaft in der Türkei ist in einer schweren Krise, die Inflation sehr hoch, die Regierung angeschlagen. Braucht die AKP-Partei von Präsident Erdogan ein solches Gesetz, um sich den Wahlerfolg nächstes Jahr zu sichern?
In der Tat sagte ein Oppositionspolitiker, die Regierung spüre, dass sie die Macht verlieren werde. Sie sei deshalb in Panik verfallen und habe dieses Gesetz deshalb rasch aus der Schublade gezogen.
Die Toleranzschwelle für unliebsame Berichterstattung wird mit dem Gesetz sicher tiefer.
Zeitpunkt sowie Art und Weise, wie das Gesetz durchs Parlament gepeitscht wurde, deuten tatsächlich darauf hin, dass die Regierung versucht, eine breite Diskussion darüber zu verhindern. Die Toleranzschwelle für unliebsame Berichterstattung wird mit dem Gesetz sicher tiefer.
Wie ist denn die türkische Opposition aufgestellt?
Sechs Parteien haben eine einigermassen einheitliche Front geschmiedet, welche bei der Parlamentswahl Erdogans Regierungsbündnis bei den Wahlen angreifen will. Allerdings hat die Opposition noch keinen Gegenkandidaten, der gegen Erdogan bei der Präsidentenwahl antritt.
Die Opposition hat noch keinen Gegenkandidaten aufgestellt, der gegen Erdogan antreten wird.
Sie hat auch noch keine konkreten Pläne für eine Wirtschafts- und Finanzpolitik vorgelegt, an denen sich die Wählerinnen und Wähler orientieren könnten. Laut Umfragen liegt das Oppositionsbündnis derzeit vor der Regierungsallianz. Doch weil noch sehr viele Wähler unentschlossen sind, kann sich das Blatt durchaus noch wenden.
Was bedeutet das für den Wahlkampf?
Es wird ein harter Wahlkampf. Wenn die Regierung schon im Vorfeld ein Gesetz erlässt, das unliebsame Kritiker für viereinhalb Jahre ins Gefängnis bringen kann, spricht das nicht für eine faire oder sanfte Auseinandersetzung. Das wird wohl selbst für türkische Verhältnisse ein sehr ruppiger Wahlkampf.
Das Gespräch führte Christina Scheidegger.