Darum geht es: In der Europapolitik des Bundesrats galten die flankierenden Massnahmen lange Jahre als sakrosankt. Aussenminister Ignazio Cassis zeigte sich allerdings zuletzt offen, beim Schutz vor Lohndumping «andere Wege» zu beschreiten. In der «Samstagrundschau» von Radio SRF sah sich Bundespräsident Alain Berset genötigt, die roten Linien erneut zu ziehen. Heute trat der Gesamtbundesrat zu seiner letzten Sitzung vor der Sommerpause zusammen. Auf der Traktandenliste: Das EU-Dossier. Vor den Medien in Bern: Ignazio Cassis.
Cassis und die roten Linien: Der Aussenminister trat nach der Sitzung gemeinsam mit Staatssekretär Roberto Balzaretti vor die Medien. Er verkündete, dass der Bundesrat an den roten Linien beim Lohnschutz festhalten will: «Er hat diese heute bestätigt.» Zu den unverhandelbaren Bereichen zähle der Bundesrat nach wie vor ausdrücklich auch die flankierenden Massnahmen. Cassis machte klar, dass der Lohnschutz für Arbeitnehmer und die Schutzmechanismen für KMU, vor allem in den Grenzregionen, nicht zur Disposition stünden.
Wie unverrückbar sind die «roten Linien?» Cassis deutete allerdings an, dass die flankierenden Massnahmen vielleicht doch nicht absolut unverrückbar sein könnten. Die letzten Wochen hätten gezeigt, dass innenpolitisch grosser Diskussionsbedarf bestehe. Gleichzeitig aber habe die EU ihre Vorstellungen: «Ihre Wünsche sind natürlich, dass wir uns annähern.» Es bestehe ein «gewisses Delta» zwischen Bern und Brüssel, das man soweit möglich schliessen wolle.
Über die Differenzen zwischen der Schweiz und der EU wolle man nun mit den Sozialpartnern vertieft diskutieren. Dass das Gespräch mit ihnen – trotz roter Linien – gesucht werde, sei kein Widerspruch, meinte Cassis: «Es geht um rechtliche Finessen. Der Teufel steckt im Detail.» Schliesslich sei es auch für die EU wichtig zu sehen, wie diese Debatte in der Schweiz geführt werde.
Innenpolitischer Sommer: Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann soll während des Sommers, zusammen mit Aussen- und Justizdepartement, die Meinungen von Gewerkschaften, Arbeitgebern und Kantonen einholen: Sind die flankierenden Massnahmen völlig unverhandelbar? Oder gibt es doch Spielraum? Diesen könnte es etwa bei der 8-Tage-Regel geben, also der Anmeldefrist für ausländische Firmen, wie das unter anderem die Arbeitgeber in den letzten Tagen ins Spiel gebracht hatten – solange der Lohnschutz in der Schweiz gewährt bleibe. Linke und Gewerkschaften wehren sich allerdings resolut gegen eine Lockerung.
Das steht auf dem Spiel: Die Frage, warum es das Rahmenabkommen überhaupt brauche, beantwortete Cassis insbesondere mit der Rechtssicherheit und den Interessen der exportorientierten Schweizer Wirtschaft: «Es ist Öl im Getriebe der Wirtschaft. Das Abkommen löst die Unsicherheiten in den Beziehungen.» Allerdings sei der Bundesrat nicht bereit, ein Abkommen um jeden Preis zu schliessen, «sondern, nur wenn unsere roten Linien eingehalten werden.»
Die Schweiz habe das höchste Lohnniveau in Kontinentaleuropa. Dieses müsse erhalten bleiben. Zum Schluss sagte Cassis: «Nothing is agreed, before everything is agreed»: Nichts sei vereinbart, bevor in allen Punkten Einigkeit herrsche.