Es sind Bilder und Videos, die sich ins Gedächtnis einbrannten: Menschen in grösster Panik, welche am Flughafen in Kabul auf abfliegende Flugzeuge klettern und sich verzweifelt an diesen festhalten. Es sind dramatische Versuche, im letzten Moment das Land zu verlassen - weg von den Taliban.
Die Machtübernahme der Taliban nach dem Abzug der Nato und der amerikanischen und europäischen Truppen: Dies alles ist ein Jahr her.
Um 50 Jahre zurückgeworfen
Sohail Khan hat diesen Tag in seiner neuen Heimat Luzern erlebt. Wenn er heute an den 15. August 2021 zurückdenkt, kämpft er mit verschiedenen Emotionen: «Das erste Gefühl war, Afghanistan wird auf einen Schlag um 50 Jahre zurückgeworfen. Als Zweites dachte ich: Warum haben Amerika und Europa das gemacht? Warum haben sie unser Land wieder verkauft? Und ein weiterer Gedanke war: Ich kann nicht glauben, dass die Taliban wieder zurück sind.»
Die Taliban: Vor ihnen ist er vor sechs Jahren geflüchtet. Seine Geschwister und sein Vater seien bei einem Anschlag ums Leben gekommen, erzählt er.
Sohail Khans Fluchtweg führte ihn durch den Iran, die Türkei, Serbien, Bulgarien, Ungarn und Österreich, bis er dann über Italien in die Schweiz kam. Über drei Monate war er unterwegs und sagt: «Diese Flucht ist das Schlimmste, was ein Mensch erleben kann.»
Engagement für Flüchtende in der Schweiz
Als Flüchtling in der Schweiz landete er in Luzern. Er wollte schnell die Sprache lernen und sich integrieren. Kaum hatte er eine Aufenthaltsbewilligung, setzte er sich für die Integration anderer Flüchtlinge ein. Mit seinem Engagement und seiner gewinnenden und offenen Art baute sich Sohail Khan schnell ein soziales Netz auf.
Heute arbeitet er in der Küche des Kulturhauses Neubad in Luzern. Er gründete aber auch die Hilfsorganisation «Education for Integration», welche sich für und mit Flüchtenden für eine bessere Integration in der Schweiz einsetzt. Da gibt es zum Beispiel Computerkurse oder das «Sprachkaffee», wo einheimische und geflüchtete Menschen zusammensitzen und sich austauschen. Alles gratis und auf freiwilliger Basis.
Aus der Ferne helfen reichte nicht mehr
Als die Taliban die Macht in Afghanistan übernahmen, lancierte Sohail Khan mit seiner Hilfsorganisation eine Spendenaktion für die afghanische Bevölkerung auf dem Land. In Zusammenarbeit mit Menschen vor Ort wurden Lebensmittel verteilt.
Das sei nur möglich gewesen, weil er von der Schweiz aus mit den Taliban Kontakt hatte. Ohne Erlaubnis der Taliban gehe nichts, sagt Sohail Khan: «Für die Leute vor Ort, welche diese Freiwilligenarbeit gemacht haben, wäre es ohne Zustimmung der Taliban gefährlich geworden.»
Doch die Hilfe aus der Ferne reichte Sohail Khan irgendwann nicht mehr. Das Bedürfnis, selbst vor Ort zu schauen, wohin die Spendengelder fliessen und wo Hilfe nötig ist, wuchs. Im Mai reiste er deshalb zum ersten Mal seit sechs Jahren zurück nach Afghanistan.
Du hast keine Garantie, ob du zurückkommst.
Sohail Khan wusste, dass es ein riskantes Unterfangen ist, zurück nach Afghanistan zu reisen: «Du hast keine Garantie, ob du zurückkommst.»
Natürlich habe er Angst vor den Taliban gehabt. Aber irgendwie sei es ihm gelungen, diese Angst in der Schweiz zurückzulassen. Als er die Armut und den Hunger der Bevölkerung gesehen habe, habe das die Angst verdrängt. Zu helfen sei im Vordergrund gestanden.
Um dies zu ermöglichen, musste er sich auch vor Ort mit den Taliban treffen, um sie über seine Hilfsprojekte zu orientieren. Es helfe, wenn man offiziell im Namen einer Organisation in Afghanistan unterwegs sei. Das schütze etwas vor der Unberechenbarkeit der Taliban.
Unterwegs in Afghanistan bemerkte Sohail Khan bald, dass nicht nur Lebensmittel nötig sind. Ihm fiel auf, dass die Kinder keine Schuhe trugen, dass sie barfuss auf dem heissen, steinigen und sandigen Boden unterwegs waren. Darum hat er mit seiner Hilfsorganisation «Education for Integration» Schuhe besorgt und an die Kindern verteilt.
«Auch Bücher haben wir verteilt, damit die Kinder lesen und lernen können», sagt Sohail Khan. Armut, Hunger und mangelnde Bildung prägten das Land.
Nähmaschinen für die Frauen
Die Situation der Frauen in Afghanistan beschäftigt Sohail Khan stark. Sie seien diejenigen, die am meisten unter dem Terrorregime der Taliban litten, sagt er.
Die Frauen hätten so viele Rechte verloren, dürften vielerorts nicht arbeiten, müssten zu Hause bleiben und, wenn sie dann doch aus dem Haus gehen, eine Burka tragen. «Ich habe mit vielen Frauen gesprochen, um herauszufinden, wie wir ihnen helfen können», erzählt Sohail Khan. Es sei eine Tatsache, dass viele Frauen ihre Kinder ernähren müssen. Da sie aber das Haus kaum verlassen und nicht arbeiten dürfen, fehlt das Geld.
Ich habe mit vielen Frauen gesprochen, um herauszufinden, wie wir ihnen helfen können.
Was tun? Die Lösung, auf die man gemeinsam gekommen sei: Nähmaschinen. So können die Frauen zu Hause für andere Kleider nähen oder flicken.
Bis jetzt hätten sie mehr als 900 Frauen mit Nähmaschinen unterstützen können, sagt Sohail Khan und fügt mit ernster Miene hinzu: «Es ist für mich schon traurig, zu sehen, dass die Frauen zu Hause sind, mit einer Nähmaschine. Aber was sollen wir tun? Es ist im Moment die einzige Option, damit sie arbeiten und Geld verdienen können, um Lebensmittel für sich und ihre Kinder zu kaufen.»
Endlich: Wiedersehen mit der Mutter
Er habe viel Trauriges gesehen auf seiner Reise durchs Land, erzählt Sohail Khan. Und trotzdem auch grosses Glück erlebt.
Es war nicht nur das Hilfsprojekt, welches ihn in seine Heimat zurückführte. Er hatte auch noch einen ganz persönlichen Grund: Sohail Khan sah seine Mutter wieder, zum ersten Mal seit seiner Flucht. Nach sechs langen Jahren. «In den Tagen vor dem Wiedersehen konnten weder meine Mutter noch ich schlafen vor Aufregung», sagt er. Und erzählt, wie schön es gewesen sei, Zeit miteinander zu verbringen, miteinander zu lachen und zu weinen.
Sie habe ihn bei allem unterstützt. Allerdings verlangte sie von ihm, dass er sein Handy ständig eingeschaltet lasse, wenn er in den Dörfern unterwegs war und ihr immer mitteile, wo er gerade sei.
Sohail Khan hat eine intensive Zeit in seinem Heimatland erlebt. Zurück in Luzern bleibt das Gefühl, dass sich die afghanische Bevölkerung seit dem Abzug der amerikanischen und europäischen Truppen im Stich gelassen fühlt.
«Afghanistan ist in Vergessenheit geraten»
Afghanistan ist aus den Schlagzeilen verschwunden. Der Ukrainekrieg beschäftigt den Westen. «Afghanistan ist in Vergessenheit geraten», sagt Sohail Khan. Alle seien weg, obwohl sie mal sagten, sie seien für die Menschen in Afghanistan da.
Die Bevölkerung habe das Gefühl, angelogen geworden zu sein. Für ihn sei es deshalb wichtig, den Menschen vor Ort zu sagen, dass vielleicht die Politik versagt habe, dass es aber Menschen und Institutionen gebe, die an sie denken würden.
Deshalb will Sohail Khan im Oktober wieder nach Afghanistan, auch wenn er damit erneut sein Leben riskiert: «Was passiert, passiert. Was für mich zählt, ist, dass ich Menschen helfen kann - und manchmal konnte ich den Leuten ein Lachen ins Gesicht zaubern. Das war für mich alles. Das war für mein Herz wichtig.»