Stell dir vor, es ist Schulstart – und keiner steht vor der Klasse. Auch wenn dieses Extremszenario am Ende doch nicht eingetroffen ist: In der Deutschschweiz hat der Mangel an Lehrpersonen viel zu reden gegeben, oft sind Quereinsteiger ohne Diplom eingesprungen.
In der Westschweiz nicht – oder viel weniger. Das zeigt auch das Beispiel Freiburg, wo das Problem nur im deutschsprachigen Kantonsteil bestand und – trotz derselben Rahmenbedingungen – an der Sprachgrenze aufhörte.
Keine Mini-Pensen
«Das Problem ist hier weniger akut», hält auch David Rey fest, Präsident der Lehrergewerkschaft der Romandie (SER). Auf der Suche nach Erklärungen tappen die Fachleute aber noch im Dunkeln. Ein Erklärungsansatz sind die Teilzeitpensen, die im Lehrerberuf stark verbreitet sind.
Die Möglichkeit, Teilzeit zu arbeiten, macht zwar einen Teil der Attraktivität des Berufs aus – doch sind gerade in der Deutschschweiz die Pensen so zerstückelt, dass selbst viele PH-Absolventinnen und -Absolventen, die hochprozentiger hätten einsteigen wollen, sich mit kleineren Pensen zufriedengeben müssen. So braucht es mehr Leute, um die vielen «kleinen» Stellen zu besetzen.
Das ist in der Westschweiz anders: Laut dem letzten Bildungsbericht der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung sind Pensen von 50 Prozent und weniger in der Westschweiz deutlich seltener als in der Deutschschweiz.
Der Kanton Genf schreibt höhere Pensen sogar vor: Das Mindest-Pensum beträgt 50 Prozent (versus 35 Prozent in Zürich), und das Durchschnittspensum auf Primarstufe liegt sogar bei 80 Prozent – im Vergleich zu rund 50 Prozent im Kanton Aargau.
Uni statt Fachhochschule
Genf ist noch in anderer Hinsicht besonders: Die pädagogische Ausbildung aller Stufen findet ausschliesslich an der Universität statt, nicht an der Fachhochschule (PH). Das führt mitunter zu höheren Einstiegslöhnen etwa auf der Primarstufe, und die Lehrpersonen können leichter zwischen den Stufen wechseln, etwa von der Oberstufe ins Gymnasium. «So wird der Beruf aufgewertet», sagt Rey.
Eine Rolle spielen könnte auch der etwas andere Stellenwert der Schule in der Westschweiz. Sie ist grundsätzlich stärker hierarchisch geprägt als in der Deutschschweiz, entsprechend der französischen Tradition.
Die Unterschiede in der Herangehensweise sind immer noch spürbar.
Streng aneinandergereihte Pulte auch für die Kleinsten, weniger Gruppenarbeiten – so sieht der Alltag auch heute noch oft aus. «Die Unterschiede in der Herangehensweise sind immer noch spürbar», so Rey. In der Deutschschweiz werde den Lehrpersonen viel Flexibilität abverlangt. Es sei denkbar, dass der Status des Lehrers und der Lehrerin in der Romandie darum noch weniger angefochten sei. Die These: Mit dem Ansehen steigt auch die Attraktivität des Berufs.
Auch Romandie nicht gefeit
Doch auch die Romandie sei nicht gefeit vor dem Lehrermangel, mahnt Rey. Schon heute sei die Situation teils angespannt und müssten Massnahmen ergriffen werden, um einem Mangel zuvorzukommen. «Noch sind das punktuelle Massnahmen», so Rey. Aber es stünden auch in der Romandie viele Abgänge beim Lehrkörper durch Pensionierungen bevor. Das müsse man im Auge behalten.