Es ist ein grosser Tag für Viktoria: der erste Schultag in der Schweiz. Die Sprache lernen und Freunde finden will sie, sagt die Erstklässlerin und steigt an der Hand ihrer Mutter Alona die Treppe hoch zu ihrem Klassenzimmer. Lehrerin Lilian Gasser begrüsst ihre neue Schulklasse.
Alona hält das Handy auf ihre Tochter, schiesst Fotos, damit der Vater in der Ukraine den Schulanfang seiner Tochter zumindest ein bisschen miterleben kann. Viktoria ist das einzige Flüchtlingskind aus der Ukraine in ihrer Klasse. Lehrerin Gasser sagt: «Wir versuchen, sie so natürlich wie möglich mitzunehmen, aber mit zusätzlicher Unterstützung.»
Nach dem Singen basteln die Kinder eine Raupe aus Papier – und dann ist es Zeit für die Eltern zu gehen. Viktoria umarmt ihre Mutter ganz fest und gibt ihr eine Sonnenblume mit auf den Heimweg.
Alona macht sich Sorgen um ihre Kinder, zum einen wegen der Sprache – und auch, weil die Kinder den Schulweg mit dem Schulbus absolvieren. Das ist neu für sie: «Zuhause waren wir ganz nahe bei der Schule und brauchten keinen Schulbus.»
Für Viktoria ist es der zweite Schulbeginn – der erste war vor einem Jahr in Saporischja. Ihre Mutter zeigt Bilder davon: Die ganze Familie strahlt in die Kamera, hat sich fein gemacht. Viktoria umarmt ihren Bruder Dima, Vater Maxim steht hinter ihr, die Mutter hält einen gelben Ballon.
Heute ist die Schultasche zwar dieselbe, doch Viktorias Leben ist ein anderes. Jetzt lebt sie in Riggisberg, die halbe Familie – Vater, Grossvater und Onkel – ist in der Ukraine geblieben.
«Die Raketen kommen näher. Immer mehr davon schlagen in den Aussenbezirken ein. Aber immerhin stehen unsere Häuser noch», sagt Alona im Garten der Wilhelmis, im Hintergrund plätschert der Brunnen. Und dann ist da noch das umkämpfte Atomkraftwerk in Saporischja.
Alona hat Angst und Heimweh. Und doch versucht sie, stark zu bleiben – für ihre Kinder. «Wenn ich sehe, was mit den Kindern in der Ukraine passiert – und dann weiss, dass die Kinder hier in Sicherheit sind, dann gibt mir das Kraft.»
Allen ist klar, dass Alonas Familie länger bei Wilhelmis in Riggisberg bleiben wird, als die einmal geplanten drei Monate. «Ich will wirklich, wirklich nach Hause. Aber mein Mann und ich haben entschieden, dass eine Rückkehr im Moment einfach zu gefährlich ist.»
Auf der Suche nach Arbeit
Alona will nach vorne schauen – die Sprache lernen, einen Job suchen. Die Bankerin hat den Schutzstatus S, besucht einen Deutschkurs. Doch das reicht noch nicht. Christine Wilhelmi hilft ebenfalls mit bei der Jobsuche.
«Ich hoffe sehr, dass sie etwas findet. Sie möchte sehr gerne in einer Küche, in der Reinigung oder in einer Wäscherei arbeiten. Das läge ihr sehr. Zu Hause war sie im Bankenbereich tätig. Im Moment ist das in der Schweiz nicht möglich, das sieht sie ein. Aber sie hat zum Glück sehr viele Fähigkeiten», sagt Wilhelmi.
Vor wenigen Tagen meldete sich Alona auf eine Anzeige im Internet. Im Bereich Tourismus, hiess es, mit gutem Verdienst. Doch dann kam aus, dahinter verbarg sich ein Angebot aus dem Sexgewerbe. Alona sucht weiter.
«Schon zwei Freundinnen»
Mittag, die Schule ist aus, eine gut gelaunte Viktoria steigt aus dem Schulbus in der Nähe von Wilhelmis Haus. Alles hat geklappt. Sie habe schon zwei Freundinnen in der neuen Klasse, erzählt sie – und rennt in Richtung Garten, der – zumindest für eine Weile – auch zu ihrem Zuhause geworden ist.